Letzte Aktualisierung:  30. Januar 2010, PK

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Peter Knauer SJ

„Neuer Wein in neue Schläuche“

Welches neue Vorverständnis bringt die christliche Botschaft mit sich?

Gedruckt in:
Standort und Bedeutung der Hermeneutik in der gegenwärtigen Theologie – Die Vorträge des Bonner Hermeneutischen Symposiums 1985 mit Einführung und Nachwort herausgegeben von A. H. J. Gunneweg und H. Schröer, Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn 1986, 63–76)  

Zusammenfassung:
Die christliche Botschaft erfordert eine Bekehrung im Vorverständnis und bringt deshalb ihre eigene Philosophie (eine relationale Ontologie) mit sich. Erst so kann sie sich selbst durch ihren Inhalt als Wort Gottes verständlich machen. 

An den christlichen Glauben die Verstehensfrage stellen zu müssen, setzt voraus, daß er nicht einfachhin „selbstverständlich“ ist. Aber es ist noch weiter zu fragen, in welchem genauen Sinn er nicht „selbstverständlich“ ist. Das Wort „selbstverständlich“ kann erstens bedeuten: „was ich von selber verstehe“; oder es kann zweitens bedeuten, daß etwas allein dadurch verständlich wird, daß es „sich selber verständlich macht“. Im Folgenden soll die Nichtselbstverständlichkeit von Wort Gottes im erstgenannten Sinn (Thesen 1–3) als Voraussetzung (Thesen 4–5) für seine wahre Selbstverständlichkeit im zweiten Sinn (Thesen 6–8) erläutert werden.

1.  Die christliche Botschaft versteht sich selbst als „Wort Gottes“: die Selbstmitteilung Gottes in dem mitmenschlichen Wort der Weitergabe des Glaubens.

Für den christlichen Glauben kommt dem Wort entscheidende Bedeutung zu. Denn der Glaube ist auf ein Wort gerichtet, das von sich beansprucht, „Wort Gottes“ zu sein. Unter „Wort“ ist grundsätzlich mitmenschliches Wort zu verstehen, gesprochen von einem Menschen zum anderen. Wir kennen in unserer Erfahrung kein anderes Wort. Und Wort „Gottes“ müßte dann ein Wort sein, in dem Gott selbst zu Wort kommt und uns das sagt, was er uns zu sagen hat.

Nach der christlichen Botschaft ist unter „Wort Gottes“ nicht ein bloßes Wort über Gott oder gar nur über von Gott verschiedene Sachverhalte zu verstehen. Um von Gott verschiedene, nämlich weltliche Sachverhalte zu erkennen, dazu braucht man kein „Wort Gottes“, sondern es genügt die natürliche Erkennbarkeit dieser weltlichen Sachverhalte. Und es bedarf dazu auch keines Glaubens, sondern es genügt die natürliche Vernunft. Wollte man Dinge „glauben“, die man auch anders als in der Weise des Glaubens erkennen kann, könnte es sich nur um Aberglauben handeln. [64›] In christlichem Verständnis kann deshalb „Wort Gottes“ nur ein solches Wort sein, in dem Gott selber sich schenkt. Wort Gottes ist also als Selbstmitteilung Gottes zu verstehen, oder es ist nicht Wort Gottes. Und diese Selbstmitteilung Gottes geschieht in schlichtem mitmenschlichem Wort. Jede Weitergabe des christlichen Glaubens ist als „Wort Gottes“ zu verstehen. So ist es im strengen Sinn „Wort Gottes“, wenn eine Mutter ihrem Kind denjenigen Glauben weitergibt, der bedeutet, daß man sich im Leben und Sterben auf Gottes Liebe verläßt. Weil Gott der ist, „der in allem mächtig“ ist, bedeutet Gemeinschaft mit ihm, daß man nicht mehr aus der Angst um sich selber leben muß. Keine Macht der Welt und nicht einmal der Tod können von Gott trennen.

 

2.  Der Anspruch der christlichen Botschaft, „Wort Gottes“ zu sein, kann nur verständlich werden, wenn er als nicht trivial selbstverständlich erfaßt wird. Dann erläutert die christliche Botschaft ihren Anspruch, „Wort Gottes“ zu sein, durch ihren Inhalt: Gott ist uns Menschen mit einer Liebe zugewandt, die an nichts Geschaffenem ihr Maß hat, sondern die Liebe Gottes zu Gott, des Vaters zum Sohn, ist. Weil diese Liebe Gottes nicht an der Welt ablesbar ist, bedarf es zu ihrer Offenbarung der Menschwerdung des Sohnes, und sie kann nur im Glauben als dem Erfülltsein vom Heiligen Geist angenommen werden. Der Mensch muß von vornherein in Christus geschaffen sein, um in diesem Sinn glauben zu können.

Luther wird die Frage zugeschrieben: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Diese Frage hat eine radikalere Bedeutung, als man gewöhnlich meint. Es geht in ihr weder um die Projektion eines strengen Vaters auf Gott, der dann besänftigt werden müßte, noch um die angebliche Seelennot des neuzeitlichen Individuums, als wäre in der Frage das „ich“ zu betonen. Der wirkliche Sinn dieser Frage liegt in der Einsicht, daß überhaupt keine bloß geschöpfliche Qualität jemals ausreichen kann, um Gemeinschaft mit Gott zu begründen.

Damit soll nicht nur gesagt werden, daß der Mensch nicht von sich aus Gemeinschaft mit Gott haben kann. Es ist ja in der Theologie allgemein anerkannt, daß Gemeinschaft mit Gott grundsätzlich nur als Gottes Gnade möglich ist. Luthers Frage setzt jedoch gerade hier an. Ist es selbstverständlich, daß Gott seinerseits uns gnädig sein kann und tatsächlich gnädig ist? Genügt es zur Bejahung dieser Möglichkeit, um die schlechthinnige Allmacht Gottes zu wissen?

[65>]In der Hochscholastik war eine heute nahezu allgemein vergessene oder verdrängte Lehre Allgemeingut: Die reale Relation des Geschaffenen auf Gott müsse einseitig sein. Es widerspreche der vollkommenen Absolutheit Gottes, eine reale Relation Gottes auf die Welt anzunehmen. Eine Relation Gottes auf die Welt könne nur als „relatio rationis“, also als gedachte Relation zwischen unseren Begriffen von Gott und Welt bestehen. Gewiß sei diese gedachte Relation Gottes auf die Welt keine bloße Chimäre, sondern sie sei in der realen Relation in der umgekehrten Richtung real begründet. Aber jedenfalls könne es keine reale Relation Gottes auf die Welt geben, weil sich Gott sonst verändern müßte, indem er diese reale Relation zu sich hinzugewinnt. Dies würde der Absolutheit Gottes widersprechen und ihm dieselbe Eigenschaft, nämlich Veränderlichkeit, zuschreiben, die bei der Welt der Grund dafür ist, sie als geschöpflich anzusehen.

Diese Lehre von der Einseitigkeit der realen Relation des Geschaffenen auf Gott war als spekulative Lösung auf ein spekulatives Problem gedacht: Wie läßt sich die Aussage von der Absolutheit Gottes unbedingt wahren?

Eigenartigerweise war sich die Hochscholastik der Brisanz dieser Behauptung von der Einseitigkeit der realen Relation des Geschaffenen auf Gott wenig bewußt. Handelt es sich nicht um den schwerstwiegenden Einwand gegen alle Aussagen des Glaubens? Denn im Glauben geht es doch darum, daß wir Menschen Gemeinschaft mit Gott haben. Aber wie läßt sich noch eine Gemeinschaft mit Gott aussagen, wenn es keine reale Relation Gottes auf die Welt geben soll? Diese Frage wurde, wenn überhaupt, wiederum nur spekulativ, nicht aber existentiell angegangen. So meinte man zum Beispiel, die Einwohnung des Heiligen Geistes nur in einem „appropriativen“, nicht im eigentlichen Sinn („proprie“) verstehen zu dürfen.

Sobald man nur ahnt, in welche Schwierigkeiten die Behauptung von der Einseitigkeit der realen Relation des Geschaffenen auf Gott führen kann, liegt es nahe, diese ganze Lehre nicht mitzumachen. Weil diese Lehre alles am Glauben in Frage zu stellen scheint, provoziert die Erinnerung an sie gelegentlich sogar heftige Zornesausbrüche. Es ist ja viel plausibler, sich Gott als einen dynamischen Bundesgott vorzustellen, für den es überhaupt kein Problem ist, seinen Geschöpfen Offenbarungen mitzuteilen. Wenn somit die prinzipielle Möglichkeit von Offenbarung problemlos erscheint, braucht man nur noch die Tatsäch-[66>]lichkeit von Offenbarung nachzuweisen, und der Glaube erscheint plausibel.

Die Lehre von der Einseitigkeit der realen Relation des Geschaffenen auf Gott hat jedoch eine unbedingte logische Notwendigkeit. Die christliche Tradition behauptet, alles in der Welt sei „aus dem Nichts geschaffen“. Dies bedeutet: In allem, worin wir uns vom Nichts unterscheiden, sind wir „restloses Bezogensein auf ... / in restloser Verschiedenheit von ...“. Wir können gar nicht darüber hinaus konstitutiver Terminus einer realen Relation Gottes auf uns sein; dies zu behaupten, liefe auf die Leugnung unseres Geschaffenseins aus dem Nichts hinaus.

So ist es also in der Tat nicht von vornherein selbstverständlich, daß Gott auch seinerseits uns zugewandt ist. Die Rede von einem „Wort Gottes“ und von Gottes Gnädigsein ist zunächst in höchstem Maße problematisch.

Was kann man angesichts dieses Problems tun? Welchen besseren Weg könnte es geben, als die christliche Botschaft selbst zu befragen, ob sie auf dieses Problem noch etwas sagen kann. Und es wird sich tatsächlich erweisen, daß gerade der Inhalt der christlichen Botschaft die Antwort auf dieses Problem ist. Die Vollmacht der christlichen Botschaft erweist sich darin, daß sie – und sogar sie allein – Gemeinschaft mit Gott in einer Weise aussagen kann, die mit der Absolutheit und Transzendenz Gottes vereinbar ist. Sie allein vermag das Gottsein Gottes wirklich zu wahren.

Die christliche Botschaft verkündet Gott als dreifaltigen. Sie sagt: Die Welt ist in die Liebe des Vaters zum Sohn aufgenommen, die der Heilige Geist ist. Mit dieser Liebe liebt Gott wirklich uns. Gott steht also zur Welt in einer Relation, deren konstitutiver Terminus nicht die Welt ist. Vielmehr besteht diese Relation von Ewigkeit her als Relation Gottes auf Gott. Nur weil Gott ein dreifaltiger Gott ist, ist eine Gemeinschaft der Welt mit Gott aussagbar. Die drei göttlichen Personen sind als untereinander verschiedene Weisen des Selbstbesitzes ein und derselben göttlichen Wirklichkeit auszusagen. Der Vater ist ein erster, durch keine andere göttliche Person vermittelter (= ursprungloser) Selbstbesitz der göttlichen Wirklichkeit. Der Sohn ist eine zweite Relation der göttlichen Wirklichkeit auf sich selbst, die durch die erste vermittelt ist und sie also voraussetzt. Der Heilige Geist ist als ein göttlicher Selbst-[67>]besitz auszusagen, der den Selbstbesitz des Vaters und den Selbstbesitz des Sohnes voraussetzt.

Diese Liebe Gottes, die ursprünglich die Liebe des Vaters zum Sohn ist und in die wir hineingenommen sind, hat ihr Maß nicht an der Welt. Deshalb kann sie auch nicht an der Welt abgelesen werden. Sie muß zur Welt dazugesagt werden, und anderenfalls bleibt sie verborgen. Es bedarf zu ihrer Offenbarung des „Wortes“.

Die christliche Botschaft spricht von einer „Menschwerdung des Sohnes“, um zu erläutern, wie man definitiv sinnvoll von einem „Wort Gottes“ sprechen kann. Aber widerspricht nicht auch die Rede von einer realen „Menschwerdung Gottes“ der Behauptung einer nur einseitig realen Relation des Geschaffenen auf Gott? Die christliche Botschaft antwortet darauf mit ihrer Rede von der „hypostatischen Union“. Sie versteht die Menschwerdung des Sohnes in der Weise, daß ein Mensch mit seinem menschlichen Selbstbesitz (der sonst, wenn er für sich abgeschlossen ist, die menschliche Person ausmacht) in den Selbstbesitz des Sohnes hineingeschaffen ist. Die Relation der göttlichen Wirklichkeit auf die geschöpfliche ist also die eines durch die göttliche Wirklichkeit selbst konstituierten göttlichen Selbstbesitzes. Auch in seiner Menschwerdung hat Gott keine solche Relation auf ein Geschöpf, für die das Geschöpf der die Relation konstituierende Terminus wäre.

Das Wort des menschgewordenen Sohnes, wonach die ganze Welt in die Liebe des Vaters zu ihm hineingeschaffen ist, läßt sich als wahr nur in demjenigen Glauben erfassen, den die christliche Botschaft als das Erfülltsein vom Heiligen Geist aussagt. Man kann die Verkündigung der Gnade Gottes nur in einem Akt annehmen, der längst von dieser Gnade getragen ist. Tatsächlich verkündet die christliche Botschaft, daß die Welt von Anfang an in die Liebe des Vaters zum Sohn hineingeschaffen ist. Sie muß also nicht von außen in den Bereich der Gnade hineingebracht werden, sondern soll sich sagen lassen, daß die Gnade ihr wahrer Ort von Anfang an ist. Sonst wäre christlicher Glaube nicht möglich.

So läßt sich der christliche Glaube zusammenfassen als Anteilhaben am Gottesverhältnis Jesu und damit als Erfülltsein vom Heiligen Geist. Es geht in ihm darum, sich von Gott in einer Weise geliebt zu wissen, auf die im Leben und Sterben Verlaß ist. Wer glaubt, lebt deshalb nicht [68>]mehr aus der Angst um sich selbst, sondern ist zu wahrer Selbstlosigkeit fähig. Der Glaube ist eine Gewißheit, die diejenige Angst des Menschen um sich selbst entmachtet, die sonst die Wurzel aller Unmenschlichkeit ist. In der Sicht des christlichen Glaubens kommen wahrhaft „gute Werke“ nur aus der Gemeinschaft mit Gott. Sie sind dann nicht mehr mit der falschen Zielsetzung der Selbstrechtfertigung belastet.

Wenn man jedoch nicht erfaßt, daß aufgrund der Einseitigkeit der realen Relation des Geschaffenen auf Gott Gemeinschaft mit Gott alles andere als selbstverständlich ist, kann man auch die Antwort auf dieses Problem, die identisch ist mit der christlichen Botschaft selbst, nicht erfassen. Es scheint, daß dann die christliche Botschaft unverstanden bleiben muß.

 

3. Von sich aus hält der Mensch den „Wort Gottes“-Anspruch für trivial selbstverständlich und vermag ihn deshalb nicht zu verstehen; darin äußert sich im Bereich des Denkens die erbsündliche Situation des Menschen.

Der Mensch hat von sich aus grundsätzlich die Neigung, auch von Gott so zu denken wie sonst von den Dingen der Welt. Dies gilt ganz gleich, ob man die Existenz Gottes im Sinne eines „höchsten Wesens“ bejaht oder ablehnt. Entweder versucht man, etwa mit Hilfe eines übergreifenden Denkprinzips von der Welt auf Gott zu schließen, und verstößt damit bereits gegen die Unbegreiflichkeit Gottes. Oder man stellt sich Gott als eine menschliche Projektion vor und lehnt seine Existenz ab. Der zugrundeliegende Fehler ist der gleiche.

Entsprechendes gilt von der Weise, wie sich der Mensch von sich aus eine Offenbarung denkt: Gott ist allmächtig und kann folglich Beliebiges mitteilen. Dies erscheint völlig problemlos. Auch wenn man die Existenz einer Offenbarung ablehnt, hat man sie sich genau nach diesem Modell gedacht.

Im Grunde bleibt dann das eigene Denken der nicht hinterfragte Rahmen, in den man die christliche Botschaft einzuordnen versucht. In diesem Sinn wird die christliche Botschaft als „trivial selbstverständlich“ mißverstanden. „Trivial selbstverständlich“ ist das, was man problemlos von selber versteht. Wo man meint, die christliche Botschaft so verstehen zu können, kann man sie nur mißverstehen. Streng genommen [69>]bleibt dann ihr Inhalt überflüssig, weil man meint, bereits ohnehin Zugang zur Gemeinschaft mit Gott zu haben. In dieser Sicht bedarf es für das Geschehen von Offenbarung weder der Dreifaltigkeit Gottes noch der Menschwerdung des Sohnes; und es ist auch nicht zu sehen, wieso die Annahme der Offenbarung als eine Gnade zu verstehen sein soll, die alle bloß natürlichen Möglichkeiten übersteigt.

Wo man sich auf eine triviale Selbstverständlichkeit der Möglichkeit von Offenbarung festgelegt hat, muß man paradoxerweise den Geheimnischarakter der Grundaussagen der christlichen Botschaft im Sinne unauflöslicher logischer Schwierigkeiten mißverstehen. Die einzige Weise, mit diesen Geheimnissen „fertig zu werden“, besteht dann darin, sie zu verschweigen. Man meint, einen einfachen, schlichten Glauben ohne diese seltsamen Zutaten einer Dreifaltigkeit oder einer Zwei-Naturen-Lehre verkünden zu sollen; und von der Sendung des Heiligen Geistes und seinem Wirken in der Kirche braucht dann auch keine Rede zu sein.

Die erbsündliche Situation des Menschen besteht darin, daß er sich letztlich nur von sich aus zu verstehen sucht und gerade damit seiner wahren Situation vor Gott widerspricht, die darin besteht, der von Gott verläßlich Geliebte zu sein. Und von sich aus ist es ihm auch gar nicht möglich, sich anders als von sich aus zu verstehen. Zu glauben vermag der Mensch nur aufgrund einer Botschaft, die er nicht aus sich selbst hat und auch nicht aus sich selber entwerfen kann, sondern die ihm in der Geschichte begegnet.

 

4.  Um sich verständlich zu machen, muß die christliche Botschaft die Auffassung von ihrer trivialen Selbstverständlichkeit bekämpfen. Sie bringt deshalb ihre eigene Philosophie mit sich, die sich zu jeder vorgefundenen Philosophie kritisch verhält.

Im Modell der trivialen Selbstverständlichkeit versucht man, innerhalb des Rahmens der Vernunft irgendwo eine Leerstelle auszumachen, in die sich eine eventuelle Offenbarung einordnen ließe. Und man interpretiert dann die christliche Botschaft in einer Weise, daß sie in diese Leerstelle paßt. Sie wird dann zu einer bloßen Bestätigung dessen, was man sich ohnehin gedacht hat. So wird die christliche Botschaft zum Beispiel als eine bloße Morallehre mißverstanden. Die christliche Botschaft selber bestreitet jedoch – und zwar mit Vernunftgründen –, daß es eine solche Leerstelle gibt, in die man sie einordnen kann.

[70>]Der Versuch, die christliche Botschaft im Rahmen des vorgefundenen Vorverständnisses „plausibel“ zu machen, kann ihr nur einen Bärendienst erweisen. Der Verkünder des christlichen Glaubens wird seine Botschaft nur in der paradoxen Weise verständlich machen können, daß er alle Versuche, sie in das vorgefundene Denken einzuordnen, widerlegt. Denn die christliche Botschaft versteht sich selber als das umfassende, letzte Wort über alle andere Wirklichkeit. Sie kann nur daran geprüft werden, daß es nicht gelingt, sie in das vorgefundene Denken einzuordnen oder aus irgendwelchen umfassenderen Prämissen abzuleiten.

Jesu Wort vom neuen Wein, der in neue Schläuche gehört (Mk 2,22 par.), bedeutet tatsächlich, daß der Glaube ein verändertes Vorverständnis erfordert. Zum Glauben kommen bedeutet zugleich eine Bekehrung des Vorverständnisses.

Gerade wenn man Offenbarung nicht als trivial selbstverständlich ansieht, gewinnen die offenbarten Glaubensgeheimnisse erst ihre volle Verständlichkeit. Ein Glaubensgeheimnis ist nicht eine logische Schwierigkeit, sondern ein Sachverhalt, der nicht an der Welt ablesbar ist, sondern notwendig verkündet werden muß und als wahr nur im Glauben zugänglich ist. Daß Gott uns Menschen mit einer Liebe liebt, die an nichts Geschaffenem ihr Maß hat, kann man nicht aus einer Analyse des Geschaffenen erkennen; es muß einem vielmehr gesagt werden, und man kann es nur in der Weise des Glaubens als wirklich erkennen.

Insofern nun das Vorverständnis des Menschen eine Sache der Philosophie ist, scheint es, daß der christliche Glaube seine eigene Philosophie mit sich bringen muß. Er stellt an die vorgefundene Philosophie philosophische Fragen, die wirklich eine Infragestellung der vorgefundenen Philosophie bedeuten.

Der volle theologische Geschöpflichkeitsbegriff besagt unser „In Christus Geschaffensein“; aber darin ist die philosophische Aussage unseres „Geschaffenseins aus dem Nichts“ enthalten. Geschaffensein aus dem Nichts bedeutet, wie bereits erwähnt: „In allem, worin wir uns vom Nichts unterscheiden, sind wir nichts als ein restloses Bezogensein auf … / in restloser Verschiedenheit von …“ Außerhalb der biblischen Tradition ist dieser Geschöpflichkeitsbegriff wohl nie erreicht worden.[71>]

 

5. Diese von der christlichen Botschaft mitgebrachte Philosophie insistiert insbesondere darauf, daß jegliches Substanzdenken durch eine relationale Ontologie unterfangen werden muß;

   die Alltagssprache durch die Anerkennung einer einseitigen Analogie aufzubrechen ist;

   jeder Einheit eine Fundamentalunterscheidung zugrunde liegt (und nicht umgekehrt). Es geht dabei um unterscheidendes Inbeziehungsetzen anstelle von Vermischen oder Trennen (vgl. die Kategorien des Dogmas von Chalkedon).

In unserem Alltagsdenken ist die erste Kategorie die in sich bestehende Wirklichkeit, die Substanz, die dann Eigenschaften hat und zu anderen Wirklichkeiten in Beziehung tritt. Von sich aus würde man auch das Verhältnis von Gott und Welt nach diesem Modell nur nachträglicher Inbeziehungsetzung denken und stellt dann zum Beispiel die Frage, wie Abhängigkeit von Gott und Freiheit noch miteinander vereinbar sind.

Die biblische Tradition erfordert ein anderes Denken. Mit der Aussage, daß alle Wirklichkeit unserer Welt „aus dem Nichts geschaffen“ ist, wird behauptet, daß die Welt gerade in ihrer Eigenständigkeit vollkommen darin aufgeht, ohne Gott nicht sein zu können.

Selbst unsere freiesten Akte sind solcher Art, daß sie ohne Gott nicht sein können. Das bedeutet nicht einen Determinismus, so daß man sagen könnte, weil Gott irgendein Geschehen in dieser Welt will, muß dieses sich notwendig ereignen und kann nicht frei sein. Denn aufgrund der Einseitigkeit der realen Relation des Geschaffenen auf Gott geht einer solchen Deduktion jede ontologische Grundlage ab. Man kann immer nur das tatsächliche Geschehen auf seine Geschöpflichkeit zurückführen, nie aber aus seiner Geschöpflichkeit herleiten. Deshalb sind auch die Erfahrung freier Selbstbestimmung und schlechthinnige Abhängigkeit von Gott keine Gegensätze.

Die Relation des Geschaffenen auf Gott begründet also überhaupt erst die Eigenständigkeit des Geschaffenen, seine Substanz. Das Geschaffene ist nicht nur der Träger seiner Relation auf Gott, sondern ist als solches Relation auf Gott. Diese Relation ist gegenüber der Substanz primär.

[72>]Gegenüber der Substanzmetaphysik, für die die Substanz die grundlegende Kategorie ist, erfordert der Glaube also eine relationale Ontologie, die mit der Möglichkeit rechnet, daß alles Sein unserer Erfahrung bereits als solches ein restloses Bezogensein ist. Nicht nur unsere Geschöpflichkeit läßt sich adäquat nur in einer solchen relationalen Ontologie aussagen, sondern erst recht die Heilsökonomie. Gemeinschaft mit Gott bedeutet, in eine Relation Gottes auf Gott aufgenommen zu werden, die selber Gott ist. Dann bleibt das Geschöpf Geschöpf, und Gott bleibt Gott, und doch sind beide miteinander verbunden.

Geschaffensein aus dem Nichts ist ein „restloses Bezogensein auf … / in restloser Verschiedenheit von …“. Das Woraufhin dieses Bezogenseins läßt sich überhaupt nur durch die Aussage definieren, daß alle Wirklichkeit unserer Welt sich ihm restlos verdankt. Gott ist als der zu definieren, „ohne den nichts ist“. Gott in sich selbst fällt also nicht unter unsere Begriffe. Man begreift von ihm immer nur das von ihm Verschiedene, das auf ihn verweist. Wir können von Gott nur in der Weise sprechen, daß wir unsere eigene Geschöpflichkeit anerkennen und so hinweisend, analog von ihm sprechen.

In solchem analogen Sprechen wird unser alltägliches Denken aufgebrochen. Die Einseitigkeit der realen Relation des Geschaffenen auf Gott bedeutet nämlich, daß es auch nur eine einseitige Ähnlichkeit der Welt Gott gegenüber gibt. Weil die Welt restlos auf Gott bezogen ist, ist sie ihm ähnlich, und man kann deshalb hinweisend affirmative Aussagen über Gott machen: Gott ist absolute Wirklichkeitsfülle. Weil aber die Welt gerade in ihrem restlosen Bezogensein auf Gott restlos von ihm verschieden bleibt, ist sie ihm gerade in ihrer Ähnlichkeit zugleich unähnlich. Das begründet die negativen Aussagen über Gott, in denen wir in bezug auf Gott alle Endlichkeit, Veränderung oder Begreifbarkeit negieren. Aber weil das restlose Bezogensein der Welt auf Gott nur eine einseitige reale Beziehung ist, gilt, daß die Ähnlichkeit der Welt Gott gegenüber nur in dieser einen Richtung besteht. Es gibt keine Ähnlichkeit Gottes mit der Welt. Deshalb ist alle affirmativen oder negativen Aussagen übersteigend zu sagen: Selbst wenn wir Gott als die absolute und unendliche Wirklichkeitsfülle bezeichnen, ist dies doch noch immer wie nichts im Vergleich zu ihm selbst, der unter keine Begriffe mehr fällt.

Nur in einem solchen relationalen Verständnis von Analogie wird es möglich, die sogenannte „via eminentiaeangebbar von der „via nega-[73>]tiva“ und der „via affirmativa“ des Sprechens von Gott zu unterscheiden.

Während wir von der Wirklichkeit unserer Welt mit Begriffen sprechen können, unter die diese Wirklichkeit fällt, können wir von Gott immer nur „hinweisend“, „analog“ sprechen. Doch ist dies kein Mangel unserer Sprache, sondern im Gegenteil ihre größte Vollkommenheit. Die Begriffe, mit denen wir sonst von unserer Welt sprechen, bekommen in diesem neuen Gebrauch ihre eigentliche Tiefendimension. Alle gute Erfahrung in unserer Welt wird für den Glauben zum Gleichnis der Gemeinschaft mit Gott; und das Leid wird als etwas erfahren, was nicht mehr die Macht hat, von der Gemeinschaft mit Gott zu trennen.

Die einseitige Gerichtetheit der Analogie der Welt Gott gegenüber unterscheidet im übrigen den Gott der christlichen Botschaft von einer Projektion. Bei einer Projektion müßte immer eine wechselseitige Ähnlichkeit zwischen Bild und projiziertem Abbild bestehen.

Die christliche Botschaft läßt sich also sachgemäß nur in den Kategorien einer relationalen Ontologie aussagen. Es gibt kein Gott und Welt übergreifendes gemeinsames Sein, innerhalb dessen dann erst zwischen Gott und Welt zu unterscheiden wäre. Vielmehr begründet nur umgekehrt die Unterscheidung von Gott und Welt das Sein der Welt.

Das Dogma von Chalkedon sagt die Verbindung von Gottsein und Menschsein in Jesus mit den scheinbar nur negativen Bestimmungen „ohne Vermischung / ohne Trennung“ aus. „Ohne Vermischung“ bedeutet, daß Gottsein und Menschsein in Jesus nicht miteinander identisch werden; dafür kann man auch positiv sagen, daß sie voneinander „unterschieden“ bleiben. Das eine ist nicht das andere, sondern bleibt in seiner Unterschiedenheit und Eigenart voll gewahrt. Umgekehrt bedeutet „ohne Trennung“, daß das voneinander Unterschiedene miteinander durch Relation des einen auf das andere „verbunden“ ist. Auch der Begriff „ohne Trennung“ läßt sich also positiv formulieren. Gottsein und Menschsein sind in Jesus durch die Relation des göttlichen Selbstbesitzes, den wir den Logos oder den Sohn nennen, miteinander „verbunden“ und bleiben gerade so voneinander „unterschieden“.

Damit ist jede Form von Mythologie ausgeschlossen. Mythologie bestünde in einer Vermischung von Gott und Welt. In der Christologie wäre es Mythologie, Jesus irdisch konstatierbare übermenschliche Fä-[74>]higkeiten zuzuschreiben. Nach dem Dogma von Chalkedon ist Jesus uns jedoch „in allem gleich außer der Sünde“. Es ist nicht zulässig, ihm noch andere Unterschiede uns gegenüber zuzuschreiben. Sein Gottsein wirkt sich auf sein Menschsein in nichts anderem aus als darin, daß er selbst nicht aus der Angst um sich selbst lebt und auch andere Menschen durch die Anteilgabe an seinem Verhältnis zu Gott aus der Macht ihrer Angst um sich selbst befreien kann.

 

6.  Der Ubergang vom Nicht-Glauben zum Glauben geschieht als die Aufhebung der Illusion des Menschen, sich letztlich nur von sich aus beurteilen zu können.

Das hermeneutische Problem des Glaubens besteht darin, daß man nicht gleichsam von außen durch Vernunftgründe in den Glauben hineinkommen kann. Die Grundeinsicht jeder christlichen Gnadenlehre ist ja, daß man Gottes Gnade nur in einem Akt annehmen kann, der selbst bereits begnadet ist. Dies scheint in einen hermeneutischen Zirkel hineinzuführen, der jede äußere Glaubensbegründung unmöglich macht. Aber wie kann man dann in den Bereich der Gnade und des Glaubens hineingelangen?

Die Antwort der christlichen Botschaft ist, daß bereits diese Fragestellung von einem falschen Vorverständnis ausgeht, das als Illusion zu überwinden ist. Die christliche Botschaft verkündet, daß die Welt von vornherein „in Christus geschaffen“ sei, und das bedeutet, daß sie von vornherein von der Gnade Gottes umfangen ist. Es gibt kein Geschöpf außerhalb der Liebe Gottes. Es gibt nur die Möglichkeit, daß man irrtümlich meint, auf sich allein gestellt zu sein.

Wer zum Glauben kommt, kommt deshalb nicht aus einem Bereich außerhalb der Gnade in den Bereich der Gnade hinein, sondern er muß nur die Illusion aufgeben, sich tatsächlich außerhalb der Gnade Gottes befunden zu haben. Die wahre Wirklichkeit des Menschen, sein „Urstand“, ist vielmehr sein „In Christus Geschaffensein“. Die erbsündliche Situation besteht darin, sich von sich aus anders zu verstehen, als es der vollen Wahrheit entspricht. Jesus Christus ist gekommen, um uns unseren „Urstand“ zu offenbaren.

 

7.  Innerhalb des Glaubens läßt sich verstehen, daß alle einzelnen Glaubensaussagen immer nur „notwendig mögliche“ Entfaltung [75>]des einen und einzigen Grundgeheimnisses unserer Gemeinschaft mit Gott sind.

Der Inhalt der christlichen Botschaft hat nicht die Struktur eines aus Teilen additiv zusammengesetzten Ganzen. In jeder einzelnen Glaubensaussage ist vielmehr das Ganze des Glaubens impliziert, das in unserer Gemeinschaft mit Gott besteht. Grunddogmen sind diese drei: Dreifaltigkeit Gottes (Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist, und wir sind aufgenommen in die Liebe des Vaters zum Sohn, die der Heilige Geist ist), Menschwerdung des Sohnes (Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch; und so konnte er uns in menschlichem Wort unser Anteilhaben an seinem Verhältnis zu Gott offenbaren) und Kirchewerdung des Heiligen Geistes (der Heilige Geist ist ein und derselbe in Christus und in den Christen; und so ist die Kirche das Geschehen der Weitergabe des Heiligen Geistes in der Weitergabe des Wortes Gottes). Alles, was sonst an Glaubenaussagen besteht, läßt sich auf dieses Grundgeheimnis unserer Anteilhabe am Gottesverhältnis Jesu zurückführen.

Daß die christliche Botschaft kein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes ist, führt zu einer wichtigen ökumenischen Folgerung. Wer immer überhaupt an Jesus Christus im Sinn seiner Gottessohnschaft glaubt, hat damit ein und denselben ganzen und vollen Glauben, selbst wenn dieser Glaube nicht bis in alle Einzelheiten expliziert wird. Eine solche Explikation in alle Einzelheiten ist grundsätzlich und notwendig möglich, aber der Glaube ist derselbe auch schon im voraus zu dieser Explikation. Man kann zum Beispiel im Glauben bereits übereinstimmen, ohne diese Übereinstimmung ausdrücklich festgestellt zu haben. Dann muß es jedoch möglich sein, die Übereinstimmung auch ausdrücklich festzustellen; denn wäre dies unmöglich, könnte auch die tatsächliche Übereinstimmung nicht wirklich bestanden haben. Aber sie besteht nicht erst von dem Zeitpunkt an, an dem sie festgestellt wird. Ziel der ökumenischen Bewegung ist deshalb streng genommen nicht eine größere Einheit im Glauben, sondern eine bereits gegebene Einheit in ihrer ganzen Größe zu erfassen.

 

8. Als Glaubensaussagen im Sinn der Selbstmitteilung Gottes verstehbare Aussagen, die dennoch falsch wären, sind von niemandem herstellbar. Die christliche Botschaft sagt allen Menschen die Möglichkeit ein und desselben unfehlbaren, verläßlichen Glaubens zu.

[76>]Ein besonderes hermeneutisches Problem stellt die Lehre von der Unfehlbarkeit des Glaubens. Zum christlichen Glauben gehört konstitutiv der Anspruch auf göttliche Verläßlichkeit. Dieser Anspruch kann nur so erhoben werden, daß jeder, der der christlichen Botschaft glaubt, ihre Wahrheit unfehlbar zu erkennen vermag und somit an der Unfehlbarkeit des Glaubens teilhat. Das heißt, daß die christliche Botschaft allen Menschen überhaupt die Fähigkeit zu unfehlbarer Gewißheit der Gemeinschaft mit Gott zuspricht. Der Gemeinschaft mit Gott kann man, wenn überhaupt, nur unfehlbar gewiß sein.

Nach der Lehre des II. Vatikanums gilt, daß die Gesamtheit der Glaubenden im Glauben nicht irren kann (Kirchenkonstitution, Nr. 12,1). Der Ausdruck „Gesamtheit“ meint alle christlich Glaubenden überhaupt, allerdings gerade nicht als isolierte Einzelne, sondern als die miteinander im Verbund Stehenden. Der christliche Glaube kommt vom Hören (vgl. Röm 10,17); es kann einzelne Glaubende nur so geben, daß sie den Glauben von anderen überliefert bekommen haben.

Die Verläßlichkeit des christlichen Glaubens ist darin begründet, daß das Wort Gottes nicht über etwas von ihm Verschiedenes redet, sondern über das, was in ihm selber geschieht. Es ist selber das offenbare Geschehen der Liebe Gottes. Weil dieses Wort mit dem, wovon es redet, nämlich der Selbstmitteilung Gottes, identisch sein muß, kann es, wenn es überhaupt verständlich ist, nur wahr sein. Es ist überhaupt nicht möglich, Sätze zu formulieren, die sich angesichts der Absolutheit Gottes als seine Selbstmitteilung verstehen ließen und dennoch falsch wären. Als Selbstmitteilung Gottes verstehbare Aussagen gibt es nur in der christlichen Botschaft und in anderen Religionen nur im Licht ihrer christlichen Interpretation.


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