Letzte Aktualisierung:  11. November 2014, PK

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Peter Knauer SJ

Ethikbegründung heute

 

     Ethik setzt voraus, dass man zu freien Entscheidungen in der Lage ist, für die man Verantwortung trägt. Sie will das Kriterium angeben, mit dem man zwischen gut und schlecht, also verantwortbar und nicht verantwortbar unterscheiden kann. Und sie wendet dieses Kriterium sowohl auf einzelne Handlungen wie auf den Verbund von Handlungen an.

     Mir werden zwei Briefumschläge vorgelegt. In dem einen davon, – aber man sagt mir nicht, in welchem –, seien fünfhundert Euro; der andere sei leer. Ist es Freiheit, wenn ich nun wählen darf? Sie wäre nicht erkenntnisgeleitet; ich könnte genausogut würfeln.

     Freiheit dagegen beginnt, wenn ich weiß, in welchem Umschlag sich das Geld befindet. Dann kann ich das Angebot von fünfhundert Euro annehmen oder auch ablehnen. Freiheit setzt nämlich voraus, dass ich etwas als „ein Gut“ erkennen kann. Ich kann es annehmen, weil es ein GUT ist, und ich kann es ablehnen, weil es nur EIN Gut ist. In beiden Fällen bin ich es, der entscheidet, und ich weiß, was ich tue. Das ist die Grundform der Freiheit. Die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Gütern zu entscheiden, ist davon abgeleitet. Es handelt sich dann um die Kombination von mehreren Einzelentscheidungen.

    
Alle Schwierigkeiten, die heutige Philosophen mit der Willensfreiheit haben, haben ein und denselben Grund: Sie halten fälschlich erst die Entscheidung unter mehreren Gegenständen für die Grundform der Freiheit. Dann scheint ihnen die Entscheidung nur dann erkenntnisgeleitet, wenn man das größere Gut wählt; aber da vorgegeben ist, welches das größere Gut ist, ist die Entscheidung nicht mehr frei, sondern determiniert. Würde jemand dagegen selber bestimmen wollen, welches das größere Gut ist, könnte eine solche Entscheidung zwar frei sein, aber sie wäre nicht mehr erkenntnisgeleitet. Aus diesem Dilemma findet man nicht mehr heraus, solange man nicht merkt, dass bereits die Voraussetzung falsch ist. Wir sind in Wirklichkeit auch gegenüber einem einzelnen Gegenstand bereits frei, und hier stellt sich noch gar nicht die Frage, welches das größere Gut ist.

      Freiheit ist erkenntnisgeleitet. Die Entscheidung ist voll in der Erkenntnis begründet, ohne durch sie determiniert zu werden. Aber woran erkennt man nun weiter, ob eine Entscheidung verantwortbar oder nicht verantwortbar ist?

 

1)   Das Kriterium für gut und schlecht

      Die einfachsten Dinge sind oft am schwersten zu verstehen. Man muss manchmal erst vieles Gestrüpp falscher Vorstellungen durchbrechen.

      Schlecht oder unverantwortlich kann eine Handlung nur dadurch werden, dass sie etwas mit einem Schaden zu tun hat
, den sie entweder verursacht oder wenigstens zulässt. Man lässt einen Schaden zu, wenn man ihn verhindern könnte, aber dies nicht tut. Verursachen oder Zulassen machen in ethischer Hinsicht keinen wesentlichen Unterschied aus.

      Was ist unter einem Schaden zu verstehen? Jede Beeinträchtigung von Leben. Darüber muss man sich nicht erst lange verständigen. Jedermann dürfte wissen, was mit einem Schaden gemeint ist: welcher Verlust auch immer und für wen auch immer.
Aber obwohl eine Handlung nur dadurch schlecht sein kann, dass sie mit einem Schaden zu tun hat, gilt: Nicht jede Handlung, die einen Schaden zulässt oder verursacht, ist tatsächlich schlecht.

     
Die meisten unserer Medikamente haben sogenannte (unerwünschte) Nebenwirkungen. Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Unerwünschte Nebenwirkungen laufen auf Schaden hinaus. Aber manchmal muss man solche Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Wann genau? Darauf antworten viele Ethiker, – wie mir scheint, letztlich unzutreffend –, man müsse einen Gütervergleich anstellen. Der angestrebte Nutzen müsse den in Kauf genommenen Schaden überwiegen. Überhaupt gehe es in der Ethik letztlich immer um Nutzenmaximierung. Aber mit diesem verallgemeinerten Denkmodell hat man es ziemlich schwer zu begründen, warum kein noch so guter Zweck ein schlechtes Mittel heiligen kann.
Traditionelle, wenn auch hermeneutisch neu bedachte Ethik nennt ein anderes Kriterium: Die Handlung muss einen „entsprechenden Grund“ haben.

      Einen Grund hat man normalerweise für überhaupt jede Handlung. Aber was ist unter einem „entsprechenden“ Grund zu verstehen? Dies lässt sich am besten am Gegensatz erläutern. In unserer deutschen Sprache gibt es das Wort „Raubbau“. Es beschreibt Handlungen, die einen angestrebten Wert auf kurze Sicht und etwa für einen selbst oder die eigenen Gruppe erreichen, aber nur um den Preis, genau denselben Wert auf die Dauer und um Kontext der überschaubaren Gesamtwirklichkeit zu untergraben. Es sind Handlungen, die letztlich „kontraproduktiv“ sind. Um des dabei zu erreichenden Gewinnes willen werden Regenwälder unkontrolliert abgeholzt. Aber eben damit untergräbt man letztlich die Quellen des Gewinns. Solche Handlungen bezeichnet man auch als „unverhältnismäßig“.

      Könnte es sein, dass alle Handlungen, die nicht zu verantworten sind, die Struktur des Raubbaus haben? Sie widersprechen letztlich ihrem eigenen Grund. Dies ist mit der Rede gemeint, dass sie keinen „entsprechenden“ Grund haben. 

     
Schlechte Handlungen untergraben in universaler Hinsicht gerade den Wert, den man für sich oder die eigene Gruppe erreichen möchte. Oder sie vergrößern den Schaden, den man mit ihnen vermeiden wollte: sie führen für einen selbst oder andere vom Regen in die Traufe. Oder sie lassen üble Nebenwirkungen überhaupt ohne Notwendigkeit zu. Diese werden genau dadurch zum unmittelbaren Handlungsgegenstand. Wenn jemand im Gebirge mit Steinen herumwirft, durch die auf tiefer liegenden Wegen Menschen getroffen werden können, dann macht man ihm mit Recht zum Vorwurf, sich darum nicht gekümmert zu haben. Einen „entsprechenden“ Grund hatte seine Handlung jedenfalls nicht. Eine Handlung, deren Grund kein „entsprechender“ ist, ist „in sich schlecht“.

      Ob der Grund einer Handlung ein „entsprechender“ ist oder nicht, also ob die Handlung nicht die Struktur von Raubbau hat oder doch, ist völlig unabhängig davon, ob es dem Handelnden selbst passt oder nicht. In der Ethik geht es um das, was wir in Wirklichkeit tun. Das ist der Sinn der traditionellen Rede vom objektiven „natürlichen Sittengesetz“.


      Kant hatte seinen kategorischen Imperativ als Kriterium der Ethik so formuliert: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könne“. Aber woran genau kann man dies erkennen? Die Antwort liegt im Begriff des „entsprechenden Grundes“. Nur Handlungen, welche letztlich die Struktur des Raubbaus und damit der Unverhältnismäßigkeit haben, können – und zwar eben wegen dieser ihrer Struktur – nicht sinnvoll in allgemeiner Gesetzgebung gefordert werden.


      Das Kriterium des „entsprechenden Grundes“ setzt keine religiösen Einsichten voraus. Religiöser Glaube begründet nicht ethische Normen, sondern will durch die Mitteilung einer letzten Geborgenheit eine befreiende („erlösende“) Hilfe zu ihrer Erfüllung sein.

 

2)   Einzelhandlung und Handlungsverbund

     Traditionell sagt man, dass die Beurteilung einer Handlung von „Gegenstand“, „Absicht“ und „Umständen“ abhängt. Man nennt sie die „Quellen der Sittlichkeit“. Und zwar bestimmen „Gegenstand“ und „Absicht“ die Handlung qualitativ als entweder gut oder schlecht; von den „Umständen“ hängt nur noch quantitativ ab, in welchem Maß sie das eine oder andere ist. Zum Beispiel ist ein Diebstahl unter sonst gleichen Bedingungen um so schlimmer, je größer der gestohlene Wert ist. Als „Umstände“ kommen für die Ethik nur solche Sachverhalte in Betracht, die das Maß der Gutheit oder Schlechtigkeit einer Handlung beeinflussen.


     Der „Gegenstand“ einer Handlung ist das, was man tatsächlich in ihr tun will. Wenn eine Handlung einen „entsprechenden Grund“ hat, dann macht dieser ihren "Gegenstand" aus und sie ist nach ihm zu benennen. Zum Beispiel wird jemandem ein Bein amputiert, und die Handlung ist ethisch als „Lebensrettung“ zu bezeichnen, weil es genau dies ist, was man tun will. Ist der Grund einer Handlung dagegen kein „entsprechender“, dann ist die Handlung nach dem in ihr zugelassenen oder verursachten Schaden zu benennen. Eine nicht in einer Lebensrettung begründete Amputation eines Körpergliedes wird mit Recht als „Verstümmelung“ eines Menschen bezeichnet.
 

     Bereits der "Gegenstand" einer Handlung ist also gewollt und damit beabsichtigt. Was nicht gewollt ist (wie unwillkürliches Niesen), ist auch ethisch nicht von Belang.
  Was könnte aber dann gemeint sein, wenn man vom "Gegenstand" einer Handlung noch einmal eigens die „Absicht“ unterscheidet? In den traditionellen Ethikhandbüchern herrscht in Bezug auf diesen Punkt allgemeine Verwirrung. Man verwechselt den Begriff „Absicht“ damit, dass jemand angeblich etwas „gut oder böse gemeint“ hat. Es geht in Wirklichkeit darum, dass unsere Handlungen oft nicht einfach für sich allein stehen, sondern mit anderen Handlungen einen Verbund bilden. Man hat bei einer Handlung oft bereits eine weitere Handlung gleichsam im Hinterkopf, die man mit ihr zusätzlich ermöglichen will. Ich mache eine Ferienreise, und ich mache sie sowieso, aber ich möchte bei dieser Gelegenheit unbemerkt eine kostbare Ikone mitgehen lassen. Der Gegenstand dieser zusätzlich beabsichtigten zweiten Handlung ist bereits bei den Vorbereitungen für die Ferienreise als zusätzliche Absicht gegenwärtig und färbt auch auf die sonst harmlose schöne Ferienreise ab. Diese wird zwar nicht „in sich schlecht“, aber doch immerhin dadurch schlecht, dass ich sie zusätzlich zur Ermöglichung einer weiteren Handlung benutzen will, die ihrerseits als Diebstahl „in sich schlecht“ ist. Tatsächlich liegt es ja nahe, dass eine Handlung nicht nur in sich selber schlecht sein kann, sondern auch dadurch schlecht sein kann, dass sie mit einer anderen, in sich schlechten Handlung in Verbund steht.

     Nur im Fall eines Verbunds von Handlungen hat es überhaupt Sinn, zwischen dem gewollten „Gegenstand“ und einer zusätzlichen „Absicht“ (dem noch nicht realisierten „Gegenstand“ einer zweiten Handlung), zu unterscheiden. Bei einer isolierten Einzelhandlung, die also nicht auf weitere Handlungen ausgerichtet wird, gibt es nur ihren eigenen gewollten „Gegenstand“. Es wäre sinnlos, zusätzlich von einer „Absicht“ zu sprechen. Ebenso falsch wäre es auch zu sagen, dass dann „Gegenstand“ und „Absicht“ in eins fallen. Damit würde man den Sinn der traditionellen Lehre von den „Quellen der Sittlichkeit“ verkennen und ihre begrifflichen Instrumente unscharf machen.


     Der berühmte Satz, dass der gute Zweck nicht das schlechte Mittel heiligt, ist das Gütesiegel jeder ordentlichen Ethik. In ihm geht es um solche Handlungsverbünde, und nur um sie. Denn ein Mittel kann nur dann moralisch schlecht sein, wenn es eine eigene Handlung darstellt. Man erkennt eine „in sich schlechte“ Handlung daran, dass sie die Struktur des Raubbaus hat. Und nun sagt dieser Satz, dass eine solche schlechte Handlung nicht dadurch besser wird, dass man sie zusätzlich benutzt, um durch sie eine weitere gute Handlung zu ermöglichen.


     Zum Beispiel sind Foltern und dadurch Herausbekommen, wo ein gefangener Terrorist eine Bombe abgelegt hat, zwei verschiedene Handlungen; zwischen ihnen trennt das Erfordernis, dass ein anderer Handelnder, nämlich der Gefolterte, klein beigeben muss. Als willentlicher Versuch, Willen zu brechen, ist Foltern eine bereits voll konstituierte, aber wegen ihrer inneren Widersprüchlichkeit "in sich schlechte" Handlung, die sich auch mit keinen noch so hehren weiteren Absichten rechtfertigen lässt.


     Weil wir die Gesamtwirklichkeit nie voll überschauen können, wissen wir allerdings nie definitiv von unseren Handlungen, ob sie tatsächlich sachgemäß sind. Wir bleiben deshalb stets auf Rückmeldungen aus der Wirklichkeit selbst angewiesen. Aber jedermann ist zuzumuten, Handlungen zu unterlassen, die sich bereits innerhalb der von ihm überschaubaren Gesamtwirklichkeit als kontraproduktiv erweisen.


     Die voranstehenden Überlegungen werden in dem Buch "Handlungsnetze – Über das Grundprinzip der Ethik", Book on Demand, ISBN 3-8311-0513-8, weiter entfaltet.



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