Letzte Aktualisierung:  17. März 2013, PK

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Peter Knauer SJ

 

Glaube befreit zur Option für die Armen


Erschienen in:
in: Magdalena Holztrattner (Hg.), Eine vorrangige Op­tion für die Armen im 21. Jahrhundert?, Tyrolia-Verlag Innsbruck 2005, ISBN 3-7002-2720-2, 37-59.

ZUSAMMENFASSUNG:
Der christliche Glaube ist die Gemeinschaft mit Gott. Er will den Menschen aus der Macht derjenigen Angst um sich selbst befreien, die ihn sonst daran hindert, auf die wirkliche Not in unserer Welt einzugehen. Aber dass Letzteres geboten ist, sollte man nicht aus dem Glauben zu begründen versuchen; es handelt sich vielmehr um eine Evidenz der Vernunft. Man leistet weder dem Glauben noch der Ethik einen Dienst, wenn man sie entweder miteinander vermengt oder aber voneinander trennt, anstatt sie unterscheidend miteinander in Beziehung zu setzen.


Das Gebot der Nächstenliebe, das den Einsatz für die Gerechtigkeit und damit die Option für die Armen impliziert, gilt heute vielen als eine Zusammenfassung dessen, worum es im christlichen Glauben geht. Wahr ist, dass es dem christlichen Glauben tatsächlich darum geht, den Menschen liebevoll zu machen. Ganz und gar unzutreffend ist es jedoch, den christlichen Glauben mit der Forderung der Nächstenliebe gleichzusetzen. Denn die bloße Aufstellung moralischer Forderungen kann ihre Erfüllung nicht garantieren.

Im Folgenden soll zunächst erläutert werden, nicht worum es dem Glauben geht, sondern worum es im Glauben geht. Denn erst wenn man weiß, worin der Glaube selber besteht, kann man sinnvoll klären, welchen Beitrag er zu dem leisten kann, worum es ihm geht: Unsere zweite Frage wird also die nach dem Verhältnis von Glauben und Ethik sein. Das Ergebnis soll schließlich auf die Frage nach der Bedeutung des Glaubens für Nächstenliebe und sodann für die Option für die Armen angewandt werden.



Worum geht es im Glauben?

Ausgangspunkt aller christlichen Theologie ist die Begegnung mit der christlichen Botschaft. Es ist eine Botschaft, die man sich nicht selber ausdenkt, sondern von anderen überliefert bekommt. Der christliche Glaube bezieht sich auf diese christliche Botschaft. Sie beansprucht, „Wort Gottes“ zu sein. Der Glaube ist auf dieses Wort gerichtet. Er besteht darin, die christlichen Botschaft ihrem Anspruch entsprechend als das Wort Gottes und damit als die Zuwendung Gottes zu uns Menschen anzunehmen.

Der Anspruch der christlichen Botschaft, „Wort Gottes“ zu sein, ist eigentlich ein unerhörter Anspruch. Dessen wird man sich nur bewusst, wenn man ausdrücklich die Frage stellt, wer denn Gott überhaupt sein soll. Denn dann erweist sich, dass es keinen größeren Einwand gegen die Rede von einem „Wort Gottes“ gibt und geben kann als gerade die Bedeutung des Wortes „Gott“.Die christliche Botschaft hat seit je behauptet, dass Gott nicht unter Begriffe falle. Dies bedeutet, dass man Gott weder als Ausgangspunkt noch Ergebnis von Schlussfolgerungen nehmen kann. Gott kommt weder als [38>] ein Beweisgegenstand in Frage noch kann es möglich sein, irgendetwas von Gott herzuleiten. Gott kommt also auch nicht als Beweisgrund in Frage. Immer wenn dennoch Derartiges versucht wird, wird es sich – wenn es denn wahr sein soll, dass Gott nicht unter Begriffe fällt – um einen Missbrauch des Wortes „Gott“ handeln.

Wenn die christliche Botschaft beansprucht, „Wort Gottes“ zu sein, dann muss sie natürlich zu allererst darüber Rechenschaft geben können, wer denn „Gott“ sein soll, der in seinem Wort zu uns spricht. Aber wenn die christliche Botschaft von vornherein behauptet, Gott falle nicht unter Begriffe, wie kann sie dann überhaupt noch von ihm reden?


Wenn dies ungeklärt bleibt, wird alles weitere fromme Reden neblig. Vermutlich hängt der Rückgang des Christentums in unserer Zeit eng mit dieser Unklarheit durchschnittlicher Glaubensverkündigung zusammen. Denn diese redet gewöhnlich von Gott, als wüssten alle Zuhörenden längst, wer damit gemeint ist. Schließlich steht ja sogar auf den Dollarnoten „In God we trust“. Auf dem Ticket für eine Schiffsreise las ich unter den Gewährleistungsbedingungen, dass nur „acts of God“, womit so genannte „höhere Gewalt“ gemeint war, ausgenommen seien. Was ist das für ein Gottesverständnis?


Ähnlich mag es sogar um das Gottesverständnis bestellt sein, wenn christliche Kreise sich für die Aufnahme eines „Gottesbezugs“ in den Entwurf einer Verfassung für Europa stark gemacht haben. Die Rede von Gott ist nicht eine Aufgabe weltlicher Institutionen. Vielmehr ist es die leider so häufig vernachlässigte Aufgabe der Kirche(n) selber, öffentlich über die Bedeutung des Wortes Gott verständliche Rechenschaft zu geben. Diese Aufgabe läst sich nicht an weltliche Institutionen delegieren.


Noch einmal: Wie kann man überhaupt von Gott sprechen, wenn er angeblich gar nicht unter Begriffe fällt? Und wenn unter „Wort“ die Kommunikation unter Menschen zu verstehen ist, wie soll es dann möglich sein, einem Gott, der nicht unter Begriffe fällt, ein menschliches Wort zuzuschreiben?
  Anstatt darüber Spekulationen anzustellen, soll die christliche Botschaft selbst darüber befragt werden, wie sie ihre Behauptungen verstanden wissen will. Dass Gott nicht unter Begriffe falle, lässt sich nicht durch die eventuelle Aussage relativieren, man könne ihn eben nur „teilweise“ begreifen. Es bedeutet aber auch nicht, dass er dann überhaupt unerkennbar sei. Die christliche Botschaft führt die Bedeutung des Wortes „Gott“ durch die Aussage ein, wir selbst und die ganze Welt seien „geschaffen“ und sogar „aus dem Nichts geschaffen“. Sie versteht damit die ganze Wirklichkeit unserer Welt als den Grund unserer Rede von Gott. Nach der christlichen Botschaft kann man so von Gott immer nur das von ihm Verschiedene begreifen, das auf ihn verweist.

Dass die Welt der Grund unserer Rede von Gott sei, ist jedoch nicht in dem Sinn gemeint, dass man von der Welt auf Gott schließen und damit dann die Welt hinter sich lassen könnte. Vielmehr besteht unsere Gotteserkenntnis
[39>] gerade in der Anerkennung unserer eigenen Geschöpflichkeit, die nur an der Welt selber erkannt werden kann. Man kann die Welt nicht hinter sich lassen, um sich gleichsam zu Gott selbst hin aufzuschwingen. Die christliche Botschaft definiert die Bedeutung des Wortes „Gott“ dadurch, dass nichts in der Welt ohne ihn existieren könne.

In dem Ausdruck „aus dem Nichts geschaffen sein“ ist mit „aus dem Nichts“ nicht ein der Erschaffung der Welt vorausgehender Zustand gemeint, dass es also vor dem angeblichen Urknall noch nichts von der Welt gegeben hätte. Und es ist auch nicht gemeint, dass nur der Beginn der Welt „aus dem Nichts“ geschaffen sei. Vielmehr bedeutet „aus dem Nichts geschaffen“, dass die Welt in ihrer ganzen Wirklichkeit und überhaupt in jedem Augenblick ihrer Existenz darin aufgeht, ohne Gott nicht sein zu können. Dass die Welt „aus dem Nichts geschaffen“ sei, ist eine Aussage, die nicht nur von einem Anfang der Welt, sondern auch von der gegenwärtigen und der zukünftigen Welt gilt. Sie bedeutet: Könnte man das Geschaffensein der Welt beseitigen (was natürlich nicht möglich ist), dann bliebe nichts von ihr übrig. Von der ganzen Welt und allem einzelnen in ihr gilt: Sein und Geschaffensein sind ein und dasselbe. Es handelt sich nicht um eine Art zusätzlicher Eigenschaft der Welt, sondern um die Welt selbst. „Aus dem Nichts geschaffen sein“ heißt, dass die Welt und auch alles einzelne in ihr ein „restloses Bezogensein auf … / in restloser Verschiedenheit von …“ ist. Mit „restlos“ ist dabei die jeweils konkrete Wirklichkeit selbst gemeint. Man darf also das Wort „restlos“ nicht abstrakt verstehen, noch abgesehen von dem, worum es in jeder einzelnen Wirklichkeit geht; damit würde es jeden Sinn verlieren. In dem Ausdruck „restloses Bezogensein auf … / in restloser Verschiedenheit von …“ stehen die Pünktchen für das Woraufhin der Relation. Sie stehen deshalb, weil wir nicht zuerst wissen, wer Gott ist, um dann zu sagen, er habe die Welt geschaffen. Vielmehr wird die Bedeutung des Wortes „Gott“ überhaupt erst durch die Aussage eingeführt, dass nichts ohne ihn sein kann. Gott ist „ohne wen nichts ist“. Das Woraufhin eines solchen konkret verstandenen „restlosen Bezogenseins auf … / in restloser Verschiedenheit von …“ nennen wir so erst „Gott“.


Gott ist deshalb auch nicht „allmächtig“ in dem bloß potentiellen Sinn, dass er alles könnte, was auch immer wir uns nur ausdenken wollen (wir wüssten nur nie im Vorhinein, ob er es denn tatsächlich will). Vielmehr ist er im aktualem Sinn „mächtig in allem“, was tatsächlich geschieht. Nichts kann ohne ihn sein. Das gilt auch von unseren freiesten Handlungen; es gilt ebenso auch von allem Schlimmen, dem wir in der Welt begegnen. Nichts kann ohne Gott sein: „Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Pfennig? Und von ihnen fällt kein einziger zur Erde ohne euren Vater. Bei euch aber sind auch die Haare des Hauptes alle gezählt.“ (Mt 10,29–30).
Dass Gott hinweisend als „in allem mächtig“ ausgesagt wird, ist für sich allein noch
[40>] keine tröstliche Aussage, wenn man bedenkt, wie viel Schreckliches, wenn auch neben allem Schönen, es in unserer Welt gibt. Es wird erst dann zu einer tröstlichen Aussage werden, wenn uns durch das Wort Gottes unsere Gemeinschaft mit Gott und damit unser letztes Geborgensein offenbar wird.

Wenn im Ernst gelten soll, dass Gott nicht unter Begriffe fallen kann, dann kann es auch nicht möglich sein, Gott zu „beweisen“. Beweisen kann man nur die Geschöpflichkeit der Welt, und damit hat alles Schlussfolgern ein Ende. Deshalb wird man von Gott selbst nur noch „hinweisend“ sprechen können. Diese „Analogie“ ist einseitig. Die Welt ist Gott analog; aber es gibt keine Analogie Gottes zur Welt. Im „hinweisenden“ Sprechen von Gott bleibt man völlig auf der Seite der Welt, die man als das versteht, was ohne ihn nicht sein kann.


Ein Beweis nicht Gottes, sondern unserer Geschöpflichkeit muss möglich sein, wenn das Sein der Welt mit ihrem Geschaffensein identisch sein soll. Die Behauptung lautet ja, wir seien genau in dem Maß geschaffen, in dem wir sind. Somit muss unser Geschaffensein, wenn es denn besteht, an unserem Sein ablesbar sein. Wäre Geschöpflichkeit nicht grundsätzlich beweisbar, dann hätte die Rede von Gott keinen Anhalt an der Wirklichkeit unserer Welt und würde aufhören, sinnvoll zu sein. Es sei ausdrücklich betont, dass auch die hinweisende Aussage, Gott sei „in allem mächtig“ noch keine Glaubensaussage, sondern eine Vernunftaussage ist, die in der Beweisbarkeit unserer Geschöpflichkeit impliziert ist.


Wie kann man Geschöpflichkeit beweisen? Sie wird daraus erkannt, dass alles in der Welt nur in der Weise einer Einheit von Gegensätzen existiert: Als endlich ist alles in der Welt eine Einheit von Sein und Nichtsein; als veränderlich ist alles in der Welt eine Einheit von Identität und Nichtidentität. Solche (notwendigen, weil in überhaupt allen Aussagen implizierten) Aussagen stellen das Problem, wie man sie von einem logischen Widerspruch und damit von falschen oder unsinnigen Aussagen unterscheiden kann. Dafür bedarf es der Angabe zweier verschiedener Hinsichten (in Entsprechung zu den Gegensätzen), die sich aber nicht wiederum ausschließen dürfen (in Entsprechung zur Einheit der Gegensätze). Die betreffende Wirklichkeit muss völlig in diesen Hinsichten aufgehen, soll nicht erneut das Problem der Unterscheidung von einem Widerspruch auftreten.


Solche einander nicht ausschließenden Hinsichten findet man nur in der Aussage eines „restlosen Bezogenseins auf … / in restloser Verschiedenheit von …“. Dass die Welt und alles in ihr in seiner jeweiligen ganzen Wirklichkeit vollkommen in einem „restlosen Bezogensein auf … / in restloser Verschiedenheit von …“ aufgeht, ist damit eine Aussage, die in überhaupt jeder Aussage über die Welt, die nicht letztlich logisch widersprüchlich und damit unsinnig sein soll, impliziert ist.


Ein solcher Geschöpflichkeitsbeweis wahrt, dass das Woraufhin dieses „restlosen Bezogenseins auf … / in restloser Verschiedenheit von …“ – wir
[41>] nennen dieses Woraufhin „Gott“ – nicht unter Begriffe fällt. Gott ist weder ein Gegenstand des Begreifens noch irgendeiner noch so tiefen Erfahrung. Er wohnt, wie die Schrift von ihm sagt, „im unzugänglichen Lichte“ (1 Tim 6,14). Geschaffensein als ein „restloses Bezogensein auf … / in restloser Verschiedenheit von …“ bedeutet eine vollkommen einseitige Relation des Geschaffenen auf Gott.

Bereits Thomas v. Aquin hat ausdrücklich gelehrt, dass eine Beziehung von Gott auf die Welt nur als eine Beziehung in unserem Denken verstanden werden kann, deren einziges Fundament in der Wirklichkeit die einseitige reale Beziehung in der umgekehrten Richtung von der Welt auf Gott ist.
(1)

Für die Einseitigkeit der Relation des Geschaffenen auf Gott argumentieren wir wohlgemerkt nicht mit der Absolutheit Gottes; denn mit ihr kann man nicht argumentieren, ohne eben dadurch bereits wieder gegen die Anerkennung seiner Unbegreiflichkeit zu verstoßen. Vielmehr argumentieren wir allein mit dem beweisbaren „aus dem Nichts Geschaffensein“ der Welt.

Aber wie kann man bei einer solchen „Ferne“ Gottes überhaupt noch von einem „Wort Gottes“ reden? Ist nicht die bisherige Antwort auf die Frage, wer Gott sein soll, nunmehr tatsächlich der schwerstwiegende Einwand gegen die Rede von einem „Wort Gottes“?


Völlig unzutreffend ist es, ausgehend von der Allmacht Gottes zu meinen, dass er sich dann selbstverständlich auch offenbaren könne. Damit wäre der Begriff eines „Wortes Gottes“ von vornherein eine unproblematische Möglichkeit. Man müsste nur noch danach fragen, ob ein solches problemlos als möglich denkbares „Wort Gottes“ tatsächlich ergangen ist.


In einem solchen Denken, dass leider auch in sich selbst als christlich verstehender Philosophie und erst recht in der Theologie sehr verbreitet zu sein scheint, würde man mit der Allmacht Gottes und damit mit Gott selbst argumentieren, um die These der Möglichkeit einer Offenbarung aufzustellen. Damit würde man jedoch wieder bereits gegen die Anerkennung der Unbegreiflichkeit Gottes verstoßen.


Wir müssen uns also erneut und unter anderen Voraussetzungen der Frage zuwenden, wie man Gott ein menschliches Wort zuschreiben kann.
 

Die Rede von einem „Wort Gottes“ scheint zum einen zu besagen, dass Gott sich der Welt zuwendet; dies würde eine reale Relation Gottes auf die Welt bedeuten. Aber liefe, sie zu behaupten, nicht doch wieder darauf hinaus, das „aus dem Nichts Geschaffensein“ der Welt nachträglich doch wieder zu leugnen?

Zum anderen ist „Wort“ grundsätzlich menschliches Wort. Es gibt Wort nur als Kommunikation unter Menschen. Wie kann man Gott ein menschliches Wort zuschreiben?


Beides ist alles andere als in dem Sinn „selbstver-
[42>]ständlich“, dass man es von selber versteht. Es ist erst die christliche Botschaft selber, die ihren Anspruch, „Wort Gottes“ zu sein, durch ihren Inhalt verständlich macht und sich so in einem ganz anderen Sinn als „selbstverständlich“ erweist: Wir verstehen sie nicht von selber, das heißt, aus eigenen Kräften, sondern sie macht sich selber, eben durch ihren eigenen Inhalt, verständlich; sie setzt auch nicht voraus, dass wir sie eigenen Kräften verstehen, sondern sie selbst versteht den Glauben des Menschen als sein Erfülltsein vom Heiligen Geist.

Auf die Frage, wie man sagen kann, dass Gott sich seiner Schöpfung zuwende, obwohl doch das Bezogensein der Welt auf Gott vollkommen einseitig ist, antwortet die christliche Botschaft durch ihre Verkündigung der Dreifaltigkeit Gottes: Wir seien in eine ewige Liebe zwischen Gott und Gott, zwischen dem Vater und dem Sohn, die der Heilige Geist ist, hinein geschaffen. Gottes Liebe zur Welt habe ihr ursprüngliches Woraufhin, das sie als Beziehung konstituiert, nicht in der Welt, sondern in Gott. Aber die Welt sei in diese Liebe aufgenommen.


Dass wir Gott Personsein zuschreiben, ist darin begründet, dass wir Menschen ihm unser Personsein verdanken, das in der grundsätzlichen Fähigkeit zur Selbstpräsenz besteht. Sie ist die höchste Vollkommenheit in der Welt, die uns zu Sprechern für die gesamte Schöpfung macht. Von unserer Selbstpräsenz her sagen wir von Gott hinweisend erst recht Selbstpräsenz aus.


Die christliche Botschaft erläutert Gottes Zuwendung zur Welt damit, dass wir in eine Liebe Gottes zu Gott aufgenommen seien. Dies ist nicht in dem Sinn gemeint, dass Gott sich selbst liebt. Die christliche Botschaft sagt vielmehr, bereits herkommend von der Botschaft Jesu, hinweisend in Bezug auf Gott aus, dass die eine Wirklichkeit Gottes in drei Personen bestehe, die voneinander verschieden sind und dennoch eine jede Selbstpräsenz der einen und einzigen Wirklichkeit Gottes sind. Man könnte hinweisend von drei untereinander verschieden vermittelten Relationen der einen Wirklichkeit Gottes auf sich selbst sprechen.

Eine solche Liebe Gottes zu Gott, in welche die Welt aufgenommen ist, kann aber, da sie ihr Maß nicht an der Welt hat, auch nicht an der Welt abgelesen werden. Wie kann man sie dann überhaupt erkennen?

Dafür beruft sich die christliche Botschaft auf die „Menschwerdung des Sohnes“. Nur wenn Gott als Mensch begegnet, kann man definitiv sinnvoll von einem „Wort Gottes“ als wirklichem menschlichem Wort sprechen. Nach der christlichen Botschaft ist der Mensch Jesus vom ersten Augenblick seiner geschaffenen Existenz an in die Selbstpräsenz Gottes, die wir den Sohn nennen, hinein geschaffen. Gottsein und Menschsein Jesu sind nicht miteinander vermischt, sondern bleiben voneinander verschieden; sie sind aber auch nicht voneinander getrennt, sondern sind durch die Relation der zweiten göttlichen Selbstpräsenz miteinander verbunden. Nur in der so verstandenen Christologie des
[43>]Konzils von Chalkedon(2) ist es überhaupt möglich, von einer Menschwerdung Gottes zu sprechen. Nur in diesem Verständnis kann die sich auf Jesus berufende christliche Botschaft zugleich ganz gewöhnliches menschliches Wort sein und doch Träger einer göttlichen Wahrheit, die im Leben und Sterben Bestand hat. Es geht um ein und dasselbe Glaubensgeheimnis, wenn von der Menschwerdung Gottes in Jesus die Rede ist und wenn die geschichtlich begegnende christliche Botschaft den Anspruch erhebt, Wort Gottes zu sein. An den Menschen Jesus als den Sohn Gottes glauben bedeutet, aufgrund seines menschlichen Wortes („Christologie von unten“) dessen gewiss zu sein, dass man selber und die ganze Welt in die ewige Liebe des Vaters zu ihm als seinem Sohn („Christologie von oben“) hinein geschaffen ist.

Die christliche Botschaft erläutert ihre Weitergabe als die nun offenbare Weitergabe des Heiligen Geistes und ihre Annahme als das nunmehr offenbare Erfülltsein des sie annehmenden Menschen vom Heiligen Geist
[. So versteht sich die Kirche als die fortdauernde Weitergabe des Wortes Gottes. Wie man von der Sendung des Sohnes (Gal 4,4) als von seiner Menschwerdung spricht, kann man von der Sendung des Heiligen Geistes (Gal 4,6) als seiner Kirchewerdung sprechen.(3)

Man kann jedoch die Gemeinschaft mit Gott nur annehmen, wenn man bereits von vornherein in ihr steht. So spricht die christliche Botschaft von einem „in Christus Geschaffensein“ der ganzen Welt, das erst durch die christliche Botschaft auch offenbar wird. Es handelt sich um das in der Theologie so genannte „übernatürliche Existential“. Demgegenüber besteht die so genannte „natürliche Gehorsamsfähigkeit“ (potentia obedientialis) des Menschen nur darin, dass er, wenn er mit der christlichen Botschaft geschichtlich konfrontiert wird, in sich selber keine stichhaltigen Gründe finden kann, sich ihr zu verweigern.


Indem die christliche Botschaft die Gemeinschaft mit Gott als dem in allem Mächtigen zu ihrem Inhalt hat, will sie die Menschen aus der Macht der mit ihrer Verwundbarkeit und Vergänglichkeit mitgegebenen Angst um sich selbst befreien.


In dieser Gesamtsicht ergibt sich, dass alles von Gott Verschiedene bloße Welt ist und nicht geglaubt werden kann. Selbst die Geschöpflichkeit der Welt ist nicht etwa ein Glaubensgegenstand, sondern ist mit der Vernunft zu erkennen (vgl. Röm 1,19–20). Tatsächlich ist dies auch die ausdrückliche Lehre der katholischen Kirche: Gott kann aus dem Geschaffenen durch die natürliche Vernunft erkannt werden
.
(4) Man darf nur nicht meinen, dass diese [44>] natürliche Gotteserkenntnis auch schon Gemeinschaft mit Gott bedeute oder auch nur ausreichen könnte, um mit Recht die Möglichkeit einer Gemeinschaft mit Gott als plausibel erscheinen zu lassen.

Der Glaube setzt erst gegenüber dem Wort Gottes ein. Wenn alles von Gott Verschiedene nur Gegenstand der Vernunft sein kann, dann wird Gegenstand des Glaubens allein die Selbstmitteilung Gottes an seine Geschöpfe sein können, die in seinem Wort geschieht. Es geht im christlichen Glauben letztlich allein darum, sich in dieser Welt in einer Liebe Gottes geborgen zu wissen, die an nichts Geschaffenem ihr Maß hat und von der auch keine Macht dieser Welt zu trennen vermag. Als die Gemeinschaft mit Gott ist der Glaube selbst bereits jetzt in dieser Welt als der Übergang vom Tod zum Leben der Beginn des ewigen Lebens (vgl. Joh 5,24 und 17,24; 1 Joh 3,14). Die vielen einzelnen Glaubensaussagen der Kirche fügen dem nichts hinzu, sondern lassen sich nur als dessen Entfaltung verstehen.


Dem entspricht die so genannte „Rechtfertigungslehre“, wonach der Mensch allein durch den Glauben an die unendliche Liebe Gottes im rechten Verhältnis zu Gott stehen kann. Die guten Werke kommen nicht als Voraussetzung, sondern nur als die natürliche Folge des Glaubens in Betracht. Vor Gott gut kann nur ein solches Handeln des Menschen sein, das aus der Gemeinschaft mit Gott hervorgeht. Die Gemeinschaft mit Gott wird jedoch in der christlichen Botschaft nicht als ein erst noch mühsam zu erreichendes Ziel vorgestellt, sondern als der Ausgangspunkt von allem anderen.


In allen Glaubensaussagen geht es letztlich um unsere Gemeinschaft mit Gott. Gott und seine Schöpfung sind voneinander verschieden; aber die Schöpfung ist darin mit Gott verbunden und in seiner Liebe geborgen, dass sie in die Liebe des Vaters zum Sohn, die der Heilige Geist ist, hinein geschaffen ist.


In allen Glaubensaussagen geht es um „unser Heil“. Das bedeutet nicht, dass der Mensch zum Maß der Glaubensaussagen werde; sondern als uns betreffend wird uns gerade ein Heil zugesagt, das alles menschliche Maß übersteigt.


Ein altes Axiom der Theologie lautet: Die Gnade (Gottes Selbstmitteilung) setzt die Natur (unser Geschaffensein) voraus und vollendet sie. Es handelt sich um eine logische, nicht um eine zeitliche Voraussetzung. Und es ist wichtig, dass man nicht umgekehrt von der Natur her die Gnade ableiten kann. Die Gnade setzt die Natur in dem Sinn voraus, dass für die Selbstmitteilung Gottes an sein Geschöpf natürlich dessen Existenz zwar nicht zeitlich, aber logisch vorauszusetzen ist.


Die Glaubenserkenntnis von unserer Gemeinschaft mit Gott impliziert also die Vernunfterkenntnis, dass wir ohne Gott gar nicht wären. Das Vertrauen auf Gottes Liebe zu uns setzt voraus, dass Gott hinweisend als der in allem Mächtige auszusagen ist: Gegen die Gemeinschaft mit ihm kann keine Macht der Welt ankommen, sondern wir sind im Leben und im Sterben in der Gemeinschaft mit Gott geborgen. Man
[45>] kann nicht sinnvoll von der Gnade Gottes (unserer Gemeinschaft mit ihm) sprechen, ohne logisch zuvor das eigene Geschaffensein, das mit der Vernunft erkannt werden kann, anzuerkennen.

Das heißt nicht, dass man einen Geschöpflichkeitsbeweis nachvollzogen haben muss, um überhaupt an die Gemeinschaft mit Gott, um die es im Glauben geht, glauben zu können. Es genügt vollkommen, dass Geschöpflichkeit in dem oben erläuterten Sinn des „restlosen Bezogenseins auf ... / in restloser Verschiedenheit von ...“ nicht widerlegt werden kann.


Nun soll jedoch gefragt werden, wozu der Glaube selbst dem Menschen dienen will. Worauf ist der Glaube aus?


Worum geht es dem Glauben?

Warum musste, ehe das Verhältnis von Glauben und Ethik besprochen werden kann, so ausführlich über den genauen Sinn des Wortes „Gott“ und der Rede von „Wort Gottes“ gesprochen werden? Wenn alles von Gott Verschiedene nur Vernunftgegenstand sein kann und es im Glauben an Gottes Wort nur um Gottes Selbstmitteilung gehen kann, was ist dann mit der Moral, mit den ethischen Normen?

Die bisherigen Klärungen waren notwendig, um zu begründen, dass ethische Normen nicht als Glaubensgegenstand in Frage kommen. Ethische Normen kann man grundsätzlich nicht mit Gott begründen, sondern muss sie aus der geschaffenen Welt mit der Vernunft erkennen. Aber wie man die Welt nicht von Gott herleiten, sondern sie nur auf ihre Geschöpflichkeit zurückführen kann, so gilt auch von der Ethik, dass sie natürlich als in der Geschöpflichkeit der Welt begründet auf Gott zurückweist. Sie kann jedoch nicht ihrerseits von Gott hergeleitet oder mit Gott begründet werden.


Das widerspricht der so sehr verbreiteten Meinung, dass ethische Normen nur dadurch verbindlich sein können, dass sie als göttliche Gebote erscheinen. Aber diese vermeintlich fromme Auffassung ist höchst unheilvoll. Sie würde den Anknüpfungspunkt für die christliche Botschaft beim Menschen unkenntlich machen. Dieser Anknüpfungspunkt besteht in einem alle Menschen betreffenden Problem: Was hindert sie daran, sich menschlich anstatt immer wieder unmenschlich zu verhalten? Dieses Hindernis besteht letztlich in der mit der Verwundbarkeit und Vergänglichkeit des Menschen mitgegebenen Angst um sich selber. Die christliche Botschaft beansprucht, von diesem Hindernis erlösen und befreien zu können. Wenn man jedoch den Unterschied zwischen menschlich und unmenschlich nicht im voraus zum Glauben erkennen könnte und damit ethisch ansprechbar wäre, hätte man von vornherein keinen Anlass, sich überhaupt mit der christlichen Botschaft zu befassen.


[46>]In Hebr 2,15 heißt es, der Sohn Gottes habe am Menschenschicksal teilgenommen, „um diejenigen zu befreien, die allesamt aus Todesfurcht ihr ganzes Leben hindurch zur Knechtschaft gezwungen waren“. In diesem kurzen Satz wird alles Böse in unserer Welt auf die mit seiner Verwundbarkeit und Vergänglichkeit mitgegebene Angst des Menschen um sich selbst zurückgeführt. Es geht nicht um die Angst vor dem Sterben, sondern vor dem Tod als dem Verlust von allem. Diese Verwundbarkeit und Vergänglichkeit ist uns angeboren. Nichts ist in unserer Welt noch gewisser, als dass wir dem Tod verfallen sind. Und wenn dies unsere letzte Gewissheit ist, dann suchen wir uns um jeden Preis zu sichern und gehen dafür notfalls über Leichen.

Im Gegensatz zu unserer angeborenen Verwundbarkeit und Vergänglichkeit ist der Glaube nicht angeboren, sondern muss einem erst von anderen Menschen überliefert werden. Er stellt jedoch eine noch umfassendere Gewissheit dar als die unserer Todesverfallenheit. Es geht ja im Glauben um eine Gemeinschaft mit Gott als dem in allem Mächtigen, von der nicht einmal der Tod zu trennen vermag. Der Glaube entmachtet diejenige Angst des Menschen um sich, die sonst der letzte Grund aller Unmenschlichkeit ist.


Die christliche Botschaft bittet eben deshalb um Gehör, weil es ihr um Entmachtung dieser Angst geht. Wenn wir aber von uns aus gar nicht in der Lage gewesen wären, den Unterschied zwischen menschlichem und unmenschlichem Verhalten im Voraus zum Glauben zu erkennen, hätten wir nicht einmal verstehen können, warum die christliche Botschaft uns um Gehör bittet.


Ethische Normen müssen also mit der Vernunft aus der Welt erkannt werden können. Der Glaube bringt keine zusätzlichen ethischen Normen mit sich, aber er will von dem befreien, was sonst immer wieder daran hindert, den Forderungen des ganz normalen Gewissens gerecht zu werden.


Allerdings besteht zwischen der Erkenntnis von Normen und ihrer tatsächlichen Erfüllung ein großer Unterschied. Es genügt nicht, zu wissen, wie man handeln sollte, um auch tatsächlich so handeln zu können. Hier setzt die befreiende und erlösende Kraft des Glaubens ein.


Wenn es der christlichen Botschaft darum geht, Liebe zu ermöglichen, dann ist damit nicht eine besondere Form der Liebe gemeint, sondern nur einfach Liebe schlechthin. Es kann keine besondere christliche Ethik geben, wie es auch streng genommen keine besonderen „christlichen Werte“ geben kann, sondern nur „Werte“ schlechthin.


In der christlichen Botschaft geht es allein um die Gemeinschaft mit Gott. Aber der christlichen Botschaft geht es dann letztlich um nichts anderes, als Menschen untereinander zu einem verantwortlichen und liebevollen Verhalten zu bringen. Geht es um nichts anderes? Gerade darin besteht ja auch die Ehre Gottes unter den Menschen. Doch vorausgesetzt wird, dass man die ethischen Normen bereits mit der Vernunft erkennen kann.


[47>] Wie ist eine solche Erkenntnis möglich? Nach der Lehre von Thomas von Aquin kann man nur „sub ratione boni“(5) überhaupt handeln: Man kann nur das anstreben, was man unter irgendeiner Hinsicht als „erstrebenswert“ und damit als einen „Wert“ ansieht. Der Wert ist der „Grund“ dafür, dass man ihn anstrebt. Und man kann nur das zu vermeiden suchen, was man unter irgendeiner Hinsicht als „Unwert“ bzw. als Schaden ansieht. Nach Thomas von Aquin ist es „unmöglich, dass ein Übel als solches angestrebt wird"(6) .

Unsere Willensfreiheit setzt nicht erst da ein, wo wir zwischen verschiedenen Gütern wählen, sondern besteht bereits gegenüber jedem einzelnen Gegenstand. Sie setzt die Erkenntnis voraus, dass es sich um „ein Gut“ handelt. Weil es „ein Gut“ ist, kann man es anstreben; weil es nur „ein Gut“ ist, kann man es auch ablehnen. In beiden Fällen weiß man, was man tut. Die Entscheidung ist erkenntnisgeleitet, ohne deshalb determiniert zu sein; sie ist frei. So gut wie alle Einwände, die man gewöhnlich gegen die Möglichkeit von Willensfreiheit erhebt, setzen fälschlich voraus, dass es in der Freiheit ursprünglich erst darum gehe, zwischen mehreren Gütern zu wählen. Aber dies wäre gar nicht möglich, wenn die Freiheit nicht von vornherein auch gegenüber jedem einzelnen Gut für sich allein bestünde.


Zur ethischen Gutheit einer Handlung genügt es jedoch nicht, dass sie ein „Gut“, einen „Wert“, anstrebt und damit einen „Grund“ hat. Es ist vielmehr erforderlich, dass der Grund einer Handlung ein „entsprechender“ ist.

Es ist nämlich auch möglich, dass eine Handlung letztlich im Widerspruch zu ihrem eigenen Grund steht, den angestrebten Wert vielleicht auf kurze Sicht und in partikulärer Hinsicht erreicht, ihn aber auf die Dauer und im ganzen gesehen – im Gesamthorizont dessen, was unserer Erkenntnis zugänglich und damit auch zumutbar ist – untergräbt. Für solche Handlungen haben wir im Deutschen den Ausdruck „Raubbau“. Mit „Raubbau“ sind Handlungsweisen gemeint, die genau den Wert oder Werteverbund, den sie anstreben, in Wirklichkeit letztlich untergraben oder die genau den Schaden oder Verbund von Schäden, den man vermeiden will, auf die Dauer und im Ganzen gesehen vergrößern. Im letzteren Fall kommt man selber vom Regen in die Traufe oder bürdet, um den eigenen Schaden zu vermeiden, anderen um so größere Schäden auf. Solche Handlungen sind kontraproduktiv und damit verantwortungslos. Sie sind dann, um die Terminologie der traditionellen Moral zu gebrauchen, „in sich schlecht“. Nur Handlungen, die die Struktur von Raubbau haben, können überhaupt „in sich schlecht sein“.

Dies ist ein Ethikkriterium, das unabhängig von jeder religiösen Begründung ist. Es ist auch im Voraus zu aller Religion für jedermann zugänglich
[48>] und zumutbar.(7) Die eigentliche ethische Frage ist also gar nicht die, welche Werte man anstreben soll, sondern wie die Werte, die wir wählen, anzustreben sind. Denn die hehresten Werte können verdorben werden, wenn man sie in einer Weise anstrebt, die auf Raubbau hinausläuft. Zum Beispiel mögen Eltern nur das Wohl ihrer Kinder im Auge haben und ihnen deshalb jede Gefahr zu ersparen versuchen; damit dienen sie den Kindern nicht wirklich, sondern machen sie untüchtig für das Leben.

Das Ethikkriterium der „Entsprechung“ zwischen Handlung und angestrebtem Wert findet sich unter dem Namen „Prinzip der Verhältnismäßigkeit“ im Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa
(8) als ein alles andere tragendes Prinzip, wenn in Artikel I-11 gefordert wird:

„(1) …Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. … (4) Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verfassung erforderliche Maß hinaus.“

In dem zu diesem Verfassungsentwurf dazugehörenden Protokoll über die Anwendung dieser Grundsätze wird der „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“, um den es uns hier vor allem geht (der Grundsatz der Subsidiarität ist nur ein Anwendungsfall davon) folgendermaßen ausgelegt: Es wird gefordert, dass alle der Union auf ihre Verhältnismäßigkeit zu überprüfen sind, insbesondere

„dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der Union, der Regierungen der Mitgliedstaaten, der regionalen und lokalen Behörden, der Wirtschaft und der Bürgerinnen und Bürger so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen müssen“ (Nr. 4).

Es geht bei dieser Verhältnismäßigkeit gerade nicht, wie man häufig meint, um einen Gütervergleich, sondern um die Frage, ob das angestrebte Ziel tatsächlich in einer Weise erreicht wird, die es nicht letztlich doch wieder zerstört.

Dieses in der Jurisprudenz sehr bekannte, aber in der Ethik gewöhnlich eher nur für Randfälle beachtete „Prinzip der Verhältnismäßigkeit“ ist meiner Auffassung nach in Wirklichkeit auch das Grundprinzip einer verantwortlichen Ethik, das allen Menschen zugänglich ist und für alle Menschen Geltung beansprucht. Alle unverantwortlichen und damit unethischen Handlungen sind daran zu erkennen, dass es ihnen an der Verhältnismäßigkeit mangelt, also dass ihr Grund kein „entsprechender“ ist, sondern letztlich untergraben wird. Indem die Europäische Union allen ihren Maßnahmen das
[49>] Prinzip der Verhältnismäßigkeit zugrunde legen will, zeigt sie möglicherweise mehr ethischen Sachverstand als zum Beispiel selbst der Katechismus der Katholischen Kirche. Diesem ist es nach meinem Eindruck nicht gelungen, ein überprüfbares und nachvollziehbares Kriterium dafür zu nennen, mit Hilfe dessen man erkennen kann, warum bestimmte Handlungen „in sich schlecht“ sind. Dieses Kriterium ist erst im Prinzip der Verhältnismäßigkeit gegeben: Alle „in sich schlechten“ Handlungen haben ihr Kriterium daran, dass ihr Grund kein „entsprechender“ ist.

Um gut handeln zu können, genügt es jedoch noch nicht, den Unterschied zwischen verantwortbar und nicht verantwortbar, zwischen gut und böse nur zu erkennen. Moralische Appelle für sich allein reichen nicht aus, solange Menschen durch ihre Angst um sich selber, die sie nicht bereits durch eigene Anstrengung überwinden können, am Guten gehindert werden. Diese mit der eigenen Verwundbarkeit und Todesverfallenheit mitgegebene Angst des Menschen um sich selber kann solange latent bleiben, als man in äußerlich gesicherten Verhältnissen lebt. Sie bricht aber immer dann aus, wenn man selber in Gefahr kommt. Gewiss hat Angst auch eine positive und hilfreiche Seite: Sie bringt einen dazu, dass man, ehe man eine Straße überquert, zuerst nach links und rechts schaut, um nicht überfahren zu werden. Angst wird nur dann unheilvoll, wenn sie so sehr Macht gewinnt, dass man um ihretwillen unmenschlich wird.

Die christliche Botschaft beansprucht, durch die Mitteilung der Gewissheit des Glaubens, nämlich der Gewissheit einer durch nichts zerstörbaren Gemeinschaft mit Gott, diejenige Angst des Menschen um sich selber, die ihn unmenschlich werden lässt, entmachten zu können. Das bedeutet nicht, dass sie ihn überhaupt von aller Angst befreit. Im Gegenteil: Es könnte sein, dass man um seines Glaubens willen verfolgt wird und deshalb noch mehr Anlass zur Angst hat als viele andere Menschen. Jesus selber hat Angst gehabt (Lk 22,44). Glaube macht eher „angstbereit“
(9) als „angstfrei“.

Dass ethische Normen mit der Vernunft aus der Welt zu erkennen sind, bedeutet im Umkehrschluss, dass man sie letztlich nicht durch Religion und deshalb auch nicht mit Gott begründen kann. Dann kann man sie auch nicht damit begründen, dass sie in der Bibel stehen. Natürlich enthält die Bibel viele ethische Normen und macht auf sie aufmerksam. Dennoch kann man die Geltung der Normen nicht daraus begründen, dass die Bibel Gottes Wort sei. Die Heilige Schrift ist nämlich nicht in beliebigem Sinn „Wort Gottes“, sondern allein im Sinn der Selbstmitteilung Gottes, unseres Anteilhabens am Verhältnis Jesu zu Gott. Es bleibt dabei, dass alles von Gott Verschiedene
[50>] bloße Welt ist und als solche nicht geglaubt werden kann, sondern Gegenstand der Vernunft ist. Wir setzen voraus, dass auch Ungläubige oder Andersgläubige den Unterschied zwischen menschlich und unmenschlich erkennen können, selbst wenn sie noch nicht an Gottes Wort glauben. Es geht also zum Beispiel nicht an, die (in sich durchaus berechtigte) Forderung nach Entschuldung der Entwicklungsländer mit dem Willen Gottes zu begründen, wie ich es in einem mexikanischen kirchlichen Plakat gelesen habe: „Dios no quiere que la deuda externa sea eterna“ (Gott will nicht, dass die Auslandschuld ewig sei).

Die Glaubenswahrheiten selbst können nur mit dem Anspruch auf ihre schlechthinnige Verlässlichkeit (Unfehlbarkeit) vertreten werden; denn ein als Selbstmitteilung Gottes verstehbares Wort enthält die Wirklichkeit, von der es redet, in sich selber und kann deshalb auch nur „aus sich“ wahr sein. Das ist der wirkliche Sinn der Rede von Unfehlbarkeit, die zum Beispiel auch Luther meinte, wenn er gesagt hat, dass die Aufhebung des Gewissheitsanspruchs das Christentum selber aufheben würde.
(10)

Aber der Anspruch kirchlicher Unfehlbarkeit „in Dingen des Glaubens und der Sitten“ bedeutet nicht, dass damit auch Sittennormen mit der Unfehlbarkeit des Glaubens gelehrt werden können; vielmehr bezieht er sich auf die „Anwendung des Glaubens auf die Sitten“
(11). Die „Anwendung des Glaubens auf die Sitten“ besteht allein in dieser Einsicht: Nur solche Werke können vor Gott gut sein, die aus der Gemeinschaft mit Gott und nicht aus der Angst des Menschen um sich selbst hervorgehen. Dies ist natürlich eine Glaubensaussage. Doch für die inhaltlichen Sittennormen ist mit Vernunft zu argumentieren. Für sie ist keine Glaubensunfehlbarkeit möglich.Tatsächlich hat ja auch die Tradition der katholischen Kirche sich in Sittenfragen stets auf das sittliche „Naturgesetz“ berufen, das der Vernunft zugänglich ist. Ob eine Handlung die Struktur von Raubbau hat oder nicht, ob sie also unverantwortbar ist oder verantwortbar, liegt in der Natur der jeweiligen Handlung selbst und ist unabhängig von der Frage, ob es dem Handelnden passt oder nicht. Es kann mit der Vernunft erkannt werden. Die Rede vom „natürlichen Sittengesetz“ verweist auf die Objektivität dieses Unterschiedes.

Deshalb bleibt, will man ethische Verbotsnormen begründen, nichts anderes übrig, als nachzuweisen, dass es den betreffenden Handlungen an einem „entsprechenden Grund“ fehlt. Sie müssen als Raubbau erwiesen werden.

Die eigentliche Aufgabe der Kirche ist deshalb die Verkündigung des Glaubens, also die Verkündigung der Gemeinschaft mit Gott aufgrund seiner Selbstmitteilung. Für ethische Normen tritt die Kirche nur aushilfsweise und
[51>] subsidiär ein. Wo Menschen in der Gefahr einer ethischen Blindheit sind, müssen sie auch auf ethische Normen aufmerksam gemacht werden, obwohl für deren Begründung Gründe der Vernunft geliefert werden müssen.

Wenn biblische Gebote gelten sollen – und viele von ihnen gelten durchaus –, dann muss es möglich sein, sie mit Vernunft zu begründen. Zum Beispiel kann man die ethische Unzulässigkeit von Homosexualität nicht bereits damit erweisen, dass sie in der Bibel verboten ist. In der Bibel ist es mit den gleichen Worten, dass es sich um einen „Greuel“ (Lev 18,22) handele, verboten, Meeresfrüchte zu genießen (vgl. Lev 11,10). In der Christenheit hält sich an das letztere Verbot heutzutage vermutlich fast niemand, und dies mit Recht. Vielleicht mag ein solches Verbot in seiner Entstehungszeit in der raschen Verderblichkeit und der darin begründeten Gesundheitsschädlichkeit von Meeresfrüchten begründet gewesen sein; aber heute ist es möglich, sie länger haltbar zu machen. Man muss also gerade im Sinn der Bibel nach Vernunftgründen suchen, um die ethische Geltung eines biblischen Verbots zu begründen. Bei der Ablehnung von Homosexualität kann es nicht um die Frage der „Bibeltreue“ gehen, sondern nur darum, ob man tatsächlich mit Vernunft  aufweisen kann, dass sie die Struktur von Kontraproduktivität hat. Es gibt Formen von Bibeltreue, die letztlich auf eine Verhöhnung der Bibel hinauslaufen. Auch zum Beispiel ein Verbot von Bluttransfusionen, wie es die Zeugen Jehovas vertreten, lässt sich im Sinn der Bibel selbst (vgl. z. B. 1 Sam 14,24–46; 1 Makk 2,29–41) nicht mit der Bibel begründen.


Von der Erfahrung ethischer Beanspruchung her, die absolut ist und der gegenüber es keine noch übergeordneten Gesichtspunkte geben kann, die sie relativierten, kann man hinweisend sagen, man stehe damit unter dem Anspruch Gottes (vgl. die Deutung von Ex 2,11–16 durch Ex 3,1–10). In diesem Sinn kann man sogar sagen, sie seien Gottes Wille. Aber man kann nicht umgekehrt ethische Forderungen von Gott herleiten oder gar mit Gott begründen. Man kann auch nicht sagen, dass die ethischen Forderungen durch den Glauben verstärkt werden; mit einer solchen Behauptung würde man nur verkennen, dass sie von vornherein unbedingt sind, und diese Verkennung ist selber unethisch.


Natürlich kann und soll man sich für sein Handeln vom Vorbild Jesu leiten lassen. Aber das ist nicht dasselbe, wie die Geltung der Gebote für dieses Handeln mit dem Glauben zu begründen. Ein Handeln ist nicht deshalb schlecht, weil es angeblich dem Willen Gottes widerspricht, sondern man kann allein deshalb sagen, dass es dem Willen Gottes widerspricht, weil es bereits mit der Vernunft als schlecht erkannt werden kann. Wollte man der Vernunft diese Erkenntnisaufgabe entziehen, würde man sie an ihrem für den Glauben notwendigen Dienst hindern. Sogar für den Glauben selbst kommt ihr diese Aufgabe des treuen Türhüters zu, der jeder Verkehrung des Glaubens, jeder Form von Aberglauben den Zugang verwehrt (vgl. Joh 10,1).


[52>] Durchaus aber hat die Glaubensverkündigung selbst ihr Kriterium darin, ob sie letztlich der Ermöglichung von Liebe dient. Kirchliche Autorität beruft sich gern auf Sätze wie: „Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat.“ (Mt 10,40) Zugleich gilt aber: „Wer ein solche Kind in meinem Namen aufnimmt, nimmt mich auf.“ (Mt 18,5; vgl. auch Mt 10,42) Die Autorität der Amtsträger wird nur dann in der rechten Weise ausgeübt, wenn sie für die Autorität der Armen und Geringen eintritt.


Nächstenliebe

Der Schriftgelehrte, der Jesus nach dem Hauptgebot befragt hatte, hat eine doppelte Antwort erhalten: „Erstes ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Denken und aus deiner ganzen Kraft. Zweites ist dieses: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Größer als diese gibt es kein anderes Gebot.“ (Mk 12,29–31).

Die Einheitsübersetzung schreibt hier etwas ungenau: „Als zweites kommt hinzu“. Es handelt sich aber nicht um ein wie von außen hinzukommendes weiteres Gebot, sondern eher um etwas, dessen Erfüllung sich aus dem ersten natürlicherweise ergibt.


Die Liebe zu Gott besteht in nichts anderem als im Glauben an seine allem zuvor kommende Liebe zu uns. Sie besteht darin, sich im Leben und Sterben auf die Geborgenheit in seiner Liebe zu verlassen und nicht mehr aus der Angst um sich selber zu leben. Damit ist der Glaube an Gott auch die Befreiung von jeder Form von Weltvergötterung bzw. der damit vorprogrammierten Verzweiflung an der Welt.


Dies ist die Voraussetzung dafür, um das Gebot der Nächstenliebe wirklich erfüllen zu können. Das Verhältnis des zweiten Gebots zum ersten ist wie das einer Frucht zu einem Baum. Nur ein guter Baum kann gute Früchte bringen. Bei einem schlechten Baum müsste man gute Früchte an seinen Ästen anbinden; aber auch damit könnte man nicht verhindern, dass sie durch den Mangel an der inneren Verbindung mit dem Baum faulen würden.


Das Gebot, den Nächsten zu lieben „wie sich selbst“ würde falsch gedeutet, wenn man es als die Forderung verstünde, man solle zuerst sich selbst lieben und dann im gleichen Maß auch den Nächsten. Wer gegenüber sich selber hart ist, wäre dann berechtigt, es auch gegenüber anderen zu sein.


Aber es ist gar nicht möglich, in dem Sinn sich selbst zu lieben, dass man sich selber Geborgenheit schenken könnte. Der Glaube an eine unendliche Liebe Gottes zu uns macht diesen ohnehin untauglichen Versuch der Selbstliebe überflüssig, da man sich ja längst und für immer in der Gemeinschaft
[53>] mit Gott geliebt und geborgen weiß und deshalb nicht mehr unter der Macht der Angst um sich selber leben muss. Natürlich kann man in diesem Sinn auch sich selber annehmen, aber eben in Wirklichkeit als von Gott unendlich geliebt. Man gibt sich den eigenen Wert nicht selbst, sondern empfängt ihn daraus, von Gott mit einer Liebe angenommen zu sein, die an nichts Geschaffenem ihr Maß hat, sondern als die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ewig und unbedingt ist.

Mit dem Hinweis auf die Überflüssigkeit von Selbstliebe ist natürlich auch nicht gemeint, man solle nunmehr Nächstenliebe ohne Rücksicht auf eigene Verluste betreiben. Es kommt ja durchaus auch vor, dass derjenige, von dem Hilfe beansprucht wird, selber am meisten in Not ist und man ihm nur raten kann, auch seinen eigenen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Nächstenliebe ist nur sinnvoll, wenn sie nachhaltig ausgeübt werden kann. Aber auch hier kann man nicht – so nahe es liegen und so fromm es klingen mag – mit „Gottes Willen“ argumentieren, etwa er könne doch nicht wollen, dass man sich selber kaputt macht. Vielmehr ist das „Helfersyndrom“ von vornherein eine Form von Raubbau und bereits deshalb nicht zu verantworten.


Den Nächsten „wie sich selbst“ lieben setzt keine Liebe „zu sich selbst“ voraus. Vielmehr verweist dieser Ausdruck auf die Fähigkeit, sich selbst in die Situation eines anderen hinein zu versetzen und sich daraufhin zu ihm zu verhalten, wie man es sich wünschte, wenn man selbst an seiner Stelle wäre. Diese Fähigkeit ist grundlegend für unser Menschsein. Sie ist die Voraussetzung für unsere Sozialität. Wir Menschen sind in der Lage, einander in unserem eigenen Inneren zu repräsentieren und uns mit der Freude anderer mit zu freuen, aber auch mit dem Leid anderer mit zu leiden (vgl. Röm 12,15). Dies drückt auch ein Sprichwort aus, das mir als eine Zusammenfassung aller Weisheit erscheinen möchte: „Geteilte Freude ist doppelte Freude, geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Dieter Suhr hat dies als „aufrechte Repräsentation“ bezeichnet, im Unterschied zur „verkehrten“, die in der Freude am Misserfolg anderer und im Ärger über ihren Erfolg bestünde. Und wenn andere Menschen zuweilen gar nicht im Inneren anderer repräsentiert sind, muss man sich nicht wundern, dass sie dann dadurch auf sich aufmerksam machen, dass sie mit Steinen werfen.
(12)

Die Frage des Schriftgelehrten „wer ist mein Nächster“ hat Jesus im Lukasevangelium zunächst mit der Geschichte von einem Mann, der unter die Räuber gefallen war, und dem Priester, dem Leviten und dem barmherzigen Samariter beantwortet (Lk 10,30–35). Dann hat er die Frage des Schriftgelehrten umformuliert: „Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als
[54>] der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?“ (v. 36) Es geht darum, nicht sich selber zum Mittelpunkt zu machen und zu sehen, bis zu einem wie weiten Umkreis man noch mit seinen „Nächsten“ zu tun hat. Hinter dieser Frage steckt wohl die Furcht, wenn der Kreis zu weit zu ziehen ist, überfordert zu werden. Nach Jesu Antwort soll vielmehr der Mensch, der am meisten in Not ist und am meisten der Hilfe bedarf, im Mittelpunkt stehen, und derjenige, der ihm helfen kann, soll ihm tatsächlich helfen und sich so als sein Nächster erweisen. Das Gleichnis weist allerdings ausdrücklich daraufhin, dass es auch in der Nächstenliebe eine Arbeitsteilung geben kann (v. 35).

Die Frage lautet also nicht mehr, wer mein Nächster ist, sondern wem gegenüber ich selbst mich als sein Nächster erweisen soll. Nach der Geschichte, die Jesus erzählt, erscheint es nicht einmal möglich, im Voraus zu planen, wem gegenüber man sich als der Nächste erweisen solle. Es wird nur gefordert, nicht wie der Levit und der Priester („sah ihn und ging vorüber“, v 31f) sehenden Auges doch nicht zu sehen, sondern sich von der Wirklichkeit tatsächlich betreffen zu lassen. Vielleicht ist das tatsächliche Sehen das eigentliche Problem.


Der barmherzige Samariter war der, welcher sich in die Situation dessen einfühlen konnte, der in Not war. Sehr anschaulich macht die Notwendigkeit der Einfühlung auch dieser Satz aus dem Hebräerbrief: „Denkt an die Gefangenen wie Mitgefangene, an die Geschundenen wie solche, die auch selber in einem Leib sind.“ (13,3)


Option für die Armen

Wir verdanken Sir Karl R. Popper, dem großen kritischen Rationalisten, aus einem anderen Zusammenhang einen sehr hilfreichen Hinweis zum Verständnis der Weisung, auf den zu schauen, der in Not ist:

»Arbeite lieber für die Beseitigung von konkreten Mißständen als für die Verwirklichung abstrakter Ideale. Versuche nicht, mit politischen Mitteln die Menschheit zu beglücken. Setze dich statt dessen für die Behebung von konkreten Mißständen ein. Oder praktischer ausgedrückt: Kämpfe für die Beseitigung des Elends mit direkten Mitteln – zum Beispiel durch die Sicherstellung eines Mindesteinkommens für jedermann. Oder kämpfe gegen Epidemien und Krankheiten durch den Bau von Krankenhäusern und medizinischen Lehranstalten. Bekämpfe Unwissenheit, wie du Verbrechen bekämpfst. Aber tu all dies mit direkten Mitteln. Entscheide, was du als das schlimmste Übel in der Gesellschaft, in der du lebst, ansiehst, und versuche geduldig, die Leute zu [55>] überzeugen, daß wir es loswerden können. [...] Erlaube deinen Träumen von einer wunderschönen Welt nicht, dich von den wirklichen Nöten der Menschen abzulenken, die heute in unserer Mitte leiden. [...] Kurz gesagt lautet meine These, daß vermeidbares menschliches Leid das dringendste Problem einer rationalen öffentlichen Politik ist, während die Förderung des Glücks kein solches Problem darstellt. Die Suche nach Glück sollte unserer privaten Initiative überlassen bleiben.«(13)

Angewandt auf die Frage, wem die Nächstenliebe zu allererst dienen soll, würde dies heißen: Es muss vor allem um diejenigen gehen, die am meisten in Not sind, die „heute in unserer Mitte“ am meisten „leiden“.

Genau dies drückt der Begriff „opción por los pobres / Option für die Armen“ aus, der im Kontext der Lateinamerikanischen Bischofskonferenzen von Medellín (1968) und Puebla (1979) entstanden zu sein scheint. Mit der „Option für die Armen“ ist Parteinahme und Entscheidung zugunsten der Armen gemeint. Denn „Arme“ nennt man diejenigen, die am meisten leiden. Es geht um diejenigen Menschen, denen das Notwendige zum Leben fehlt. Demgegenüber mag es bereits als eine beinahe ideologische Ausflucht erscheinen, wenn manchmal darauf hingewiesen wird, dass auch ökonomisch Reiche „spirituell arm“ sind, sodass die Option für die Armen dann doch wieder erfordere, sich vorrangig in deren Dienst zu stellen.

Tatsächlich stellt die Liebe zum Nächsten den Notleidenden in den Mittelpunkt und versetzt sich in seine Situation. So wird sie auch vor der Karikatur ihrer selbst bewahrt, die darin bestünde, den anderen mit dem zwangszubeglücken, was man selber am liebsten hat. Dass man den Nächsten wie sich selber lieben soll, kann ja keineswegs heißen, man solle ihm, wenn man selber eine Vorliebe für Grießbrei hat, Grießbrei aufnötigen. Es kann in der Nächstenliebe nicht darum gehen, sich selber zum Vormund seines Nächsten zu machen.

Ein Grundanliegen für die Option für die Armen in der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung ist deshalb immer, nicht nur zugunsten der Armen handeln zu wollen, sondern dabei von der Sicht der Armen selbst auszugehen. Wer Armen dienen will, muss in persönlichem Kontakt zu Armen stehen.

Ob der Begriff „Option“, der ja im Deutschen ein Fremdwort ist, als Übersetzung sehr glücklich gewählt ist, mag dahingestellt bleiben. Vom lateinischen Ursprung her bedeutet „Option“ soviel wie Entscheidung, freie Wahl zwischen Alternativen.

Im Wirtschaftsleben versteht man heute unter „Option“ häufig eine Art Vorkaufsrecht, das man gewöhnlich nur bis
[56>] zu einem bestimmten Termin wahrnehmen kann. Von daher mag der Begriff „Option für die Armen“ auch darauf hinweisen, dass man für ihre Einlösung unter Zeitdruck steht. Es geht nicht nur um die Notwendigkeit, sondern auch um die Dringlichkeit des Einsatzes zugunsten der Armen. Die Dringlichkeit des Einsatzes duldet keinen Aufschub.

Man spricht oft von einer „vorrangigen“ Option für die Armen. Der Begriff „preferencial“ scheint in der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Puebla 1979 eingeführt worden zu sein; mit „preferencial“ ist nicht die Option als „vorrangig“ gemeint, sondern das, wofür „optiert“ wird und was also „vorgezogen“ werden soll. Es sollte wohl ausgedrückt werden, dass die Entscheidung für die Armen zwar vor allen anderen Alternativen Priorität haben solle, aber dass sie doch andere Optionen nicht ausschließe. Aber eigentlich bedeutet bereits „Option“, dass man eine Sache anderen Entscheidungsmöglichkeiten vorzieht, sodass „vorrangig“ ein Pleonasmus wäre. Die „Option für die Armen“ schließt niemanden vom Heil aus; sie wendet sich aber gegen die Lebensweise der Reichen, die sich um die Armen nicht kümmern.

In seiner Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ vom 30. 12. 1987 hat auch Papst Johannes Paul II. den Begriff „Option für die Armen“ aufgenommen und sogar als in der ganzen sozialethischen Tradition der Kirche verankert erklärt. Er gebraucht ihn in der Form „Option [oder] (14) vorrangige Liebe für die Armen“. Johannes Paul II. schreibt in Bezug auf die wichtigen Themen der Katholischen Soziallehre:

„42. Ich möchte hier auf eines davon besonders hinweisen: auf die Option [oder] vorrangige Liebe für die Armen. Dies ist eine Option oder ein besonderer Vorrang in der Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt. Sie bezieht sich auf das Leben eines jeden Christen, insofern er dem Leben Christi nachfolgt; sie gilt aber gleichermaßen für unsere sozialen Verpflichtungen und daher auch für unseren Lebensstil sowie für die entsprechenden Entscheidungen die hinsichtlich des Eigentums und des Gebrauchs der Güter zu treffen sind.

Heute muß angesichts der weltweiten Bedeutung, die die Soziale Frage erlangt hat, diese vorrangige Liebe mit den von ihr inspirierten Entscheidungen die unzähligen Scharen von Hungernden, Bettlern, Obdachlosen, Menschen ohne medizinische Hilfe und vor allem ohne [57>] Hoffnung auf eine bessere Zukunft umfassen: Es ist unmöglich, die Existenz dieser Menschengruppen nicht zur Kenntnis zu nehmen. An ihnen vorbeizusehen würde bedeuten, daß wir dem ‚reichen Prasser’ gleichen, der so tat, als kenne er den Bettler Lazarus nicht, ‚der vor seiner Tür lag’ (vgl. Lk 16, 19-31).

Unser tägliches Leben wie auch unsere Entscheidungen in Politik und Wirtschaft müssen von diesen Gegebenheiten geprägt sein. In gleicher Weise dürfen die Verantwortlichen der Nationen und internationalen Einrichtungen, die ja verpflichtet sind, die wahre menschliche Dimension immer an die erste Stelle ihrer Programme zu setzen, nicht vergessen, dem Phänomen der wachsenden Armut Vorrang zu geben. Anstatt abzunehmen, vervielfacht sich leider die Zahl der Armen, nicht nur in den weniger entwickelten, sondern auch, was ebenso skandalös erscheint, in den stärker entwickelten Ländern.“

Johannes Paul II. weist auch ausdrücklich darauf hin, dass diese Option nicht auf die individuelle Hilfe für Arme beschränkt bleiben kann, sondern dass es ebenso auch notwendig ist, Strukturen zu verändern, die sich auf die Armen negativ auswirken:

„Es hängt von den einzelnen örtlichen Situationen ab, die dringlichsten Reformen herauszufinden und die Art und Weise festzulegen, sie zu verwirklichen; man darf dabei aber nicht jene Reformen vergessen, die von der Situation des oben beschriebenen internationalen Ungleichgewichtes gefordert werden. Diesbezüglich möchte ich hier besonders erwähnen: die Reform des internationalen Handelssystems, das durch Protektionismus und einen wachsenden Hang zu zweiseitigen Vereinbarungen belastet ist; die Reform des Weltwährungs- und -finanzsystems, das heute als nicht ausreichend erkannt ist; die Frage des Transfers von Technologie und ihrer angemessenen Verwendung; die Notwendigkeit einer Überprüfung der Struktur der bestehenden internationalen Organisationen im Rahmen einer internationalen Rechtsordnung.“ (n. 43)

Es gibt Strukturen, die sich als schädlich erweisen. Solche Strukturen mögen ohne bösen Willen entstanden sein. Aber wenn man ihre Schädlichkeit erkennt, dann wird ihre Beibehaltung und gar Unterstützung für die dafür Verantwortlichen unverantwortlich. In diesem Sinn spricht man theologisch von „struktureller Sünde“.


Als Begründung für seine Aussagen beruft sich Johannes Paul II. auf das die christliche Soziallehre kennzeichnende Prinzip: „Die Güter dieser Welt sind ursprünglich für alle bestimmt.“ Aber auch ein solches Prinzip kann man nicht aus dem Willen Gottes herleiten, sondern muss es mit Vernunft begründen, um es so auf den Willen Gottes zurückführen zu können.

[58>] Die „Option für die Armen“ stellt keine christliche Sondermoral dar. Sie lässt sich als ethische Forderung im voraus zu allem Glauben mit Vernunftgründen einsichtig machen.

Die christliche Verkündigung will den Menschen zur Erfüllung der mit seinem Menschsein mitgegebenen ethischen Forderungen befreien. Sind deshalb nur die Christen in der Lage, ethische Normen nicht nur wie alle anderen zu erkennen, sondern auch tatsächlich zu erfüllen?

Zwar besteht ein großer Unterschied zwischen bloß sittlich richtigem Handeln und im eigentlichen Sinn sittlich gutem Handeln. Sittlich richtig kann man selbst dann handeln, wenn man letztlich noch unter der Macht der Angst um sich selbst steht. Man handelt durchaus sittlich richtig, wenn man im Selbstbedienungsladen die Ware bezahlt, selbst wenn man dies nur deshalb tut, weil man fürchtet, sonst erwischt zu werden. Im eigentlichen Sinn sittlich gut handelt man aber erst dann, wenn man immer sittlich richtig handeln wollte; dazu wäre es notwendig, aus der Macht der Angst um sich selber befreit zu sein.

Die christliche Verkündigung behauptet, dass alle, die ethische Normen tatsächlich erfüllen und im eigentlichen Sinn sittlich gut handeln, dies bereits aus dem Geist Jesu tun, selbst wenn er ihnen noch nicht ausdrücklich bekannt ist. In Joh 3,20–21 heißt es: „Wer Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott gewirkt sind.“ Der letzte Satz bedeutet: Wer immer in unserer Welt liebevoll lebt, würde, wenn er der christlichen Botschaft in klarer Form begegnete, voller Freude rückschauend erkennen, dass er schon längst aus ihrem Geist gelebt hat: Alles im eigentlichen Sinn gute Handeln ist von einem Grundvertrauen getragen, das letztlich aus der Gemeinschaft mit Gott lebt.

Man könnte im Sinn der christlichen Botschaft dieses Grundvertrauen als „anonymen Glauben“ bezeichnen. Er ist anonym, weil er sich noch nicht auf den Namen Jesu beruft; aber er ist Glaube, weil er letztlich darauf beruht, dass man durch von anderen Menschen empfangene Liebe zu einem Grundvertrauen gelangt ist. Die Liebe wird von der christlichen Botschaft als Gegenwart Gottes bezeichnet: „Denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe.“ (1 Joh 4,7–8). So führen Christen alles im eigentlichen Sinn gute Handeln auf Gottes Gnade zurück. Dies würde auch von vermeintlichen Atheisten gelten, die sich aber tatsächlich der Armen annehmen.

[59>] Zusammenfassung:

Der christliche Glaube ist die Gemeinschaft mit Gott. Er will den Menschen aus der Macht derjenigen Angst um sich selbst befreien, die ihn sonst daran hindert, auf die wirkliche Not in unserer Welt einzugehen. Aber dass Letzteres geboten ist, sollte man nicht aus dem Glauben zu begründen versuchen; es handelt sich vielmehr um eine Evidenz der Vernunft. Man leistet weder dem Glauben noch der Ethik einen Dienst, wenn man sie entweder miteinander vermengt oder aber voneinander trennt, anstatt sie unterscheidend miteinander in Beziehung zu setzen.



1. [41>] Vgl. Thomas v. Aquin, S. th. I q13 a7 c und S. c. g. lib. 2 cap. 12 n. 1–2: Bei Thomas kann man jedoch den Eindruck gewinnen, dass er vom Gottesbegriff her zu argumentieren versucht; dies ist nicht möglich.

2.
[43>] DH 301–303

3. II. Vatikanum, Dogmatische Konstitution über die Kirche, n. 7,3 und 8,1. Die Kirche ist deshalb Glaubensgegenstand, weil der Heilige Geist „ein und derselbe in Haupt und Gliedern“ ist.

4. I. Vatikanum, DH 3004.


5.
[47>] Thomas v. Aquin, S. th. I-II q8 a1; vgl. auch I-II q94 a2.

6. Thomas v. Aquin, S. th.I q19 a9 c; vgl. auch I-II q 78 a1 ad2.

7.
[48>] Vgl. Peter Knauer, „Handlungsnetze – Über das Grundprinzip der Ethik“, Frankfurt am Main, 2002 (Book on demand, ISBN 3-8311-0513-8).

8. Am leichtesten zugänglich: http://europa.eu.int/constitution/download/print_de.pdf (03. 05. 2005).

9.
[49>] Vgl. Rudolf Bultmann, „Zum Problem der Entmythologisierung“, in: Kerygma und Mythos II, hrsg. v. Hans Werner Bartsch, Hamburg Volksdorf 1952, 203f).

10.
[50>] Martin Luther, De servo arbitrio, WA 18,603,28f :„Tolle assertiones, et christianismum tulisti.“

11. II. Vatikanum, Dogmatische Konstitution über die Kirche, n. 25,1.


12.
[53>] Dieter Suhr, „Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung – Über Hegel und Marx zu einer dialektischen Verfassungstheorie“, Berlin 1975, 293–302.

13.
[55>] Karl R. Popper, „Vermutungen und Widerlegungen I / II – Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis“, Teilband II Widerlegungen, Tübingen 2000, 523f.; Kursivierung von mir.

14.
[56>] Das „oder“ fehlt in der deutschen Übersetzung, findet sich aber in den anderssprachigen Ausgaben. Vgl. die in http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/encyclicals/index_ge.htm (04. 05.2005) angebotenen Fassungen auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Polnisch, Portugiesisch, Spanisch.



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