Letzte Aktualisierung:  3. November  2013, PK

[Zurück zur Bibliographie von Peter Knauer]

 Peter Knauer SJ

Christus „in“ den Religionen: Interiorismus

Erschienen in:
FZPhTh 51 (2004) 237252

ZUSAMMENFASSUNG:
An Stelle von Exklusivismus, Inklusivismus oder Pluralismus bietet sich eine neue Verhältnisbestimmung der christlichen Glaubens zu den anderen Religionen an, für welche die Bezeichnung „Interiorismus“ vorgeschlagen wird. Die christliche Botschaft versteht sich nicht als Überbietung der anderen Religionen, sondern als Dienst an ihrer tiefsten Wahrheit. In allen wirklichen Religionen geht es letztlich um ein Geborgensein in der Gemeinschaft mit Gott, über die hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Sie ist aber nur dann mit der Anerkennung der Transzendenz Gottes vereinbar, wenn sie darin besteht, in eine Liebe Gottes zu Gott aufgenommen zu sein.


Für die Verhältnisbestimmung des christlichen Glaubens zu den anderen Religionen begegnen geschichtlich vor allem drei Modelle: Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus.

I.     Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus

Der Exklusivismus geht davon aus, dass die christliche Botschaft die wahre Religion ist. Daraus scheint zu folgen, dass alle anderen Religionen falsch sind. Diese Folgerung liegt vor allem dann nahe, wenn man andere Religionen noch nicht einmal näher kennt. Man hat es dann besonders leicht, sie zu verurteilen. Den Exklusivismus kann man mit der Formel ausdrücken: „Christus gegen die Religionen“. Diese Formel scheint ein freundliches Verhältnis des christlichen Glaubens zu den anderen Religionen auszuschließen.

Wenn man dagegen fromme und liebevolle Anhänger anderer Religionen kennen gelernt hat, fällt eine solche Verurteilung etwas schwerer. Will man trotzdem daran festhalten, dass die eigene Religion die wahre ist, dann bietet sich der Inklusivismus als Verhältnisbestimmung an: Auch die anderen haben Elemente der Wahrheit. Aber erst der christliche Glaube ist die volle Wahrheit. Eine Formel dafür wäre: „Christus über den Religionen“. Sie bedeutet: die anderen Religionen haben immerhin etwas an Wahrheit und Heil, aber die Christen haben mehr. Gegen den Inklusivismus spricht zum einen, dass auch ein solcher Superioritätsanspruch des Christentums gegenüber den anderen Religionen von diesen als Herabminderung empfunden werden müsste. Zum anderen: auch die Anerkennung von „Elementen“ der eigenen Wahrheit in anderen Religionen wird von diesen eher nur als illegitime Vereinnahmung erfahren.


In den letzten Jahrzehnten hat sich noch ein weiteres Modell herausgebildet, der sogenannte Pluralismus. Er geht davon aus, dass die verschiedenen Religionen nur in unterschiedlicher Weise alle dasselbe ver[238]ehren. Gott spiegelt sich in den Religionen wie in einer Art Kaleidoskop wieder.1 Keine Religion kann einen Absolutheitsanspruch erheben, oder wenn sie ihn erhebt, dann bleibt er auf die Anhänger der jeweiligen Religion beschränkt. Die Formel für diese Verhältnisbestimmung könnte lauten: „Christus neben den Religionen“. Für die Christen wäre Christus der am meisten Gott wohlgefällige Mensch, und für andere Religionen könnten es zum Beispiel Buddha oder Mohammed sein. Es schiene allerdings, dass dann die christliche Rede von der Gottessohnschaft Jesu entweder nur eine Art blumiger Sprache wäre oder dass man auch außerhalb des Christentums viele Inkarnationen des Göttlichen annehmen sollte.

1 Vgl. zur Auseinandersetzung Gerhard Gäde, Viele Religionen – ein Wort Gottes. Einspruch gegen John Hicks pluralistische Religionstheologie, Gütersloh 1998. Gädes neueste Veröffentlichung, Christus in den Religionen – Der christliche Glaube und die Wahrheit der Religionen, Paderborn 2003, trifft sich ganz mit den Anliegen des vorliegenden Artikels.

Wenn Christen zwischen diesen verschiedenen Modellen wählen müssten, könnte der Inklusivismus noch am ehesten anziehend erscheinen. Er vermeidet sowohl die Härte des Exklusivismus wie die Relativierung und Nivellierung auch des eigenen Anspruchs, wie sie der Pluralismus impliziert. Es macht den Eindruck, dass auch lehramtliche Äußerungen der katholischen Kirche sich gegenwärtig noch am ehesten mit dem Inklusivismus identifizieren. Obwohl Elemente der Wahrheit auch in den anderen Religionen anerkannt werden, hält man diese Religionen insgesamt doch für schwerwiegend defizitär.2

2Vgl. z. B. die Erklärung Dominus Iesus der Glaubenskongregation vom 6. August 2000 Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, n. 22: „Wenn es auch wahr ist, dass die Nichtchristen die göttliche Gnade empfangen können, so ist doch gewiss, dass sie sich objektiv in einer schwer defizitären Situation befinden im Vergleich zu jenen, die in der Kirche die Fülle der Heilsmittel besitzen.“ Als Beleg für diese Aussage zitiert das Dokument: Pius XII., Enzyklika Mystici corporis: DH 3821.

Es gibt Theologen, die sprachanalytisch aufzuweisen versuchen, dass es außer Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus keine weiteren Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung des christlichen Glaubens zu den anderen Religionen geben könne. Dies geht zum Beispiel nach dem Modell: „Heilsvermittelnde Gotteserkenntnis“ ist unter den Religionen „entweder gegeben oder nicht gegeben. Wenn sie gegeben ist, dann nur entweder einmal oder mehrmals. Wenn sie mehrmals gegeben ist, dann entweder nur einmal mit einer Höchstform oder mehrmals.3 Wenn diese [239] Höchstform mehrmals gegeben ist, dann ist nach dieser Auffassung der Pluralismus im Recht. Aber in einer solchen apriorischen Deduktion versucht man einen Rahmen zu setzen und setzt voraus, dass es nur die Möglichkeiten geben kann, die sich in diesen Rahmen einordnen lassen. Man setzt voraus, dass der Begriff „heilsvermittelnde Gotteserkenntnis“ problemlos gebildet werden kann und dann nur noch zu fragen ist, ob es diese Gotteserkenntnis und wie oft es sie gibt. Man rechnet nicht mit der Möglichkeit, dass der Rahmen selbst in Frage gestellt werden muss. Aber genau dies geschieht in der christlichen Botschaft, wie im folgenden gezeigt werden soll. Der Begriff einer „heilsvermittelnden Gotteserkenntnis“ ist alles andere als eine problemlos selbstverständliche Möglichkeit.

3 Perry Schmidt-Leukel
, Grundkurs Fundamentaltheologie – Eine Einführung in die Grundfragen des christlichen Glaubens, München 1999, 187.

II.    Ein allen Religionen gemeinsames Problem

Es soll hier nur um wirkliche Religionen im Unterschied zu Pseudoreligion gehen. Wahre Religion unterscheidet sich von Pseudoreligion dadurch, dass es in ihr um die Verehrung einer letzten und unüberbietbaren Wirklichkeit geht.4 „Unüberbietbarkeit“ ist Kriterium für jede wirkliche Religion. Pseudoreligion dagegen liefe auf die Verehrung von Überbietbarem, nämlich auf Weltvergötterung hinaus, deren Umschlagen in Verzweiflung damit bereits vorprogrammiert ist. Zum Beispiel waren der römische Kaiserkult oder in unserer Zeit der Nationalsozialismus oder Scientology nur pseudoreligiös.

4 Vgl. dazu im Koran Sure 6,74-79 oder Augustinus Hipponensis, Confessionum libri tredecim, lib. 10, cap. 5 ss [CPL 0251 SL 27 (L. Verheijen, 1981)]; in beiden Texten geht es um die Anerkennung des Schöpfers als Alternative zu jeder Form von Weltvergötterung.

Wenn alle wahre Religion in der Verehrung einer unüberbietbaren Wirklichkeit besteht, dann kommt ihr selber in ihrem Verweischarakter auf unüberbietbare Wirklichkeit eine Unüberbietbarkeit und damit auch Unersetzbarkeit zu.

In allen wirklichen Religionen geht es um ein letztes und damit unüberbietbares Geborgensein des Menschen. Selbst wo wie im Buddhismus nicht einmal ausdrücklich von „Gott“ die Rede ist, wird doch als die tiefste Bestimmung des Menschen das Eingehen in das Nirvana bezeichnet, das namenlose, alles Begreifen übersteigende Seligkeit und ein Geborgensein und Errettetsein aus aller Bedrohung bedeutet.5 Müsste man nicht auch hier sagen, dass nichts noch Größeres gedacht werden kann?

5 Vgl. Hajime Nakamura, „Die Grundlehren des Buddhismus Ihre Wurzeln in Geschichte und Tradition“, in: Buddhismus der Gegenwart, hrsg. von Heinrich Dumoulin, Freiburg 1970, 26–27: „Viele poetische Ausdrücke beschreiben den Zustand des Menschen, der das vollkommene Endziel erreicht hat. Verschiedene Aspekte des vielseitigen Begriffes ‚Nirvāna’ zeigen die mannigfachen Namen wie Hafen der Zuflucht, kühle Höhle, Insel inmitten der Fluten, Glücksort, Emanzipation, Befreiung, Sicherheit, das Höchste, das Transzendentale, das Ungeschaffene, das Stille, Heim des Behagens, Ruhe, Ende des Leidens, Heilmittel aller Übel, das Unerschütterte, Ambrosia, das Unsterbliche, das Unmaterielle, das Unvergängliche, das Bleibende, die andere Küste, das Nie-Endende, Seligkeit der Anstrengung, die höchste Freude, das Unsagbare, die Losschälung, die heilige Stadt u. a. [...] Im Gegensatz zur im Westen herrschenden Auffassung von Nirvāna verwarf der Buddhismus ausdrücklich das Verlangen nach Auslöschen im Sinne von Annihiliation oder Nicht-Existenz [...].

[240]Allerdings ist alles Begreifen übersteigende Seligkeit und Geborgen- und Errettetsein nicht eine Art gemeinsamer Oberbegriff für alle Religionen, mit dem man logische Berechnungen anstellen könnte. Damit wäre bereits der letztlich in allen Religionen behaupteten Unbegreiflichkeit dieses Letzten widersprochen. Vielmehr stellt sich möglicherweise für überhaupt alle Religionen die Frage, wie denn ein Mensch tatsächlich denken könne, mit diesem Letzten verbunden und in ihm geborgen zu sein.


Nur auf den ersten Blick und bei sehr oberflächlicher Betrachtung ist dies keine echte Frage. Dann sagt man, dass Gott oder das Letzte doch allmächtig sei und sich deshalb auch seinem Geschöpf mitteilen könne. Besteht nicht die Gemeinsamkeit aller Religionen gerade darin, dem Göttlichen zuzutrauen, dass es sich in dieser Welt manifestieren und auswirken könne? Allerdings hat man mit dieser Meinung bereits aus dem Auge verloren und vergessen, dass die in den Religionen verehrte Wirklichkeit nicht nur solcher Art ist, dass nichts noch Größeres gedacht werden kann, sondern dass sie größer ist als alles, was wir überhaupt denken können.
6

6 Vgl. Anselm von Canterbury (10331109): Für ihn ist Gott „etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann [aliquid quo nihil maius cogitari possit]“ (Proslogion 2 [I, 101, 5]). Dies stellt nicht Gott unter einen Begriff, sondern ist eine Aussage über die Welt, nämlich dass auch Gott und Welt zusammen nicht größer als Gott sind. Dann kann die Welt nur noch völlig darin aufgehen, ohne Gott gar nicht sein zu können. Deshalb formuliert Anselm schließlich: „Herr, du bist also nicht nur das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, sondern du bist etwas Größeres, als gedacht werden kann [Ergo Domine, non solum es quo maius cogitari nequit, sed es quiddam maius quam cogitari possit]“ (Proslogion 15 [I, 112, 14]).

Sowohl die jüdische Religion wie das Christentum als auch der Islam sprechen von Gott, indem sie von der Welt sagen, sie sei „aus dem Nichts geschaffen“. Wenn man diese Aussage radikal interpretiert, – und nur so lässt sie sich überhaupt verstehen – dann bedeutet sie: In allem, worin sich etwas in unserer Welt vom Nichts unterscheidet, also in jeder Hinsicht, in der es überhaupt ist, geht es völlig darin auf, dass es ohne Gott gar [241] nicht sein kann. Dies ist eine unüberbietbare, nicht mehr steigerungsfähige Abhängigkeit.


Wenn die Welt genau in dem Maß geschaffen sein soll, in dem ihr Sein zukommt, dann muss ihre Geschöpflichkeit an ihr ablesbar und damit der Vernunft zugänglich und sogar im eigentlichen Sinn beweisbar sein. Tatsächlich kann man einen solchen Beweis führen. Alles in der Welt stellt ein Zugleich von Gegensätzen dar. Zum Beispiel ist Veränderung, der ja überhaupt alles in unserer Welt unterliegt, ein unauflösbares Zugleich von sich durchhaltender Identität und von Nichtidentität. Anders als logisch widersprüchlich lässt sich dies nur beschreiben, wenn man dafür zwei verschiedene Hinsichten angeben kann, die sich nicht wiederum ausschließen. Solche Hinsichten findet man nur im Begriff des „restlosen Bezogenseins auf ... / in restloser Verschiedenheit von ...“.


Man weiß dann allerdings nicht zuerst, wer Gott ist, um erst danach von ihm zu sagen, er habe die Welt geschaffen. Vielmehr ist die Welt der Ausgangspunkt dieser Rede von Gott, und diesen Ausgangspunkt kann man nicht hinter sich lassen. Alles in der Welt wird als „restloses Bezogensein auf ... / in restloser Verschiedenheit von ...“ verstanden. Mit „restlos“ ist die jeweilige konkrete Eigenwirklichkeit des weltlichen Seienden gemeint. Und das Woraufhin dieses „restlosen Bezogenseins“ lässt sich nur so aussagen, dass wir von der Welt sagen, dass sie ohne dieses Woraufhin gar nicht wäre. Gott würde also definiert als „ohne wen nichts ist“. Gerade so fällt Gott selbst nicht unter unsere Begriffe, denn wir begreifen von ihm immer nur das von ihm Verschiedene, das auf ihn verweist. Die einzige Weise, sinnvoll von Gott zu sprechen, besteht also darin, unser Geschaffensein aus dem Nichts anzuerkennen. Und weil Geschaffensein aus dem Nichts die ganze Wirklichkeit der Welt umfasst, ist Gott ein und derselbe für die ganze Welt.


„Aus dem Nichts Geschaffensein“ meint auch nicht nur einen Anfang der Welt, als ginge es darum, dass vor der Erschaffung der Welt noch nichts von ihr existierte. Vielmehr geht es um die jeweils gegenwärtige und auch alle Zeit umfassende restlose Abhängigkeit von allem, was existiert. „Aus dem Nichts Geschaffensein“ bedeutet: Könnten wir unser Geschaffensein beseitigen, dann bliebe nichts von uns übrig. Geschaffensein ist deshalb auch keine zusätzliche Eigenschaft der Welt, sondern ist mit ihrem ganzen Sein vollkommen identisch.


Die traditionelle Rede vom „Aus dem Nichts Geschaffensein“ erfordert zu ihrem Verständnis eine auf den ersten Blick vielleicht befremdende „relationale Ontologie“. Wir sind gewohnt, als die grundlegende Seinskategorie die Substanz anzusehen und ihr die Kategorie der Relation nur nachzuordnen. „Aus dem Nichts Geschaffensein“ würde aber bedeuten, dass es eine Relation gibt, die substanzkonstituierend und da[242]mit der Substanz vorgeordnet ist. Die Eigenwirklichkeit der Welt kommt nur so zustande, dass sie in sich selbst ein „restloses Bezogensein auf ... / in restloser Verschiedenheit von ...“ ist.


Deshalb aber kann die Welt nicht darüber hinaus ihrerseits konstitutierender Terminus für eine Relation Gottes auf sie sein. Dies zu behaupten liefe auf eine nachträgliche Leugnung des „Aus dem Nichts Geschaffenseins“ hinaus. Vielmehr muss die die Welt in ihrem Sein konstituierende Relation der Welt auf Gott als von vornherein vollkommen einseitige Relation ausgesagt werden. Zu dieser Einsicht bedarf es geradezu einer Bekehrung bis in das Vorverständnis hinein. Denn das mitgebrachte Vorverständnis des Menschen besteht zunächst darin, schlechthin alles als in Wechselwirkung bestehend zu denken. Es besteht eine kaum überwindbare Neigung, auch Gott in die Welt als den Bereich der Wechselwirkungen hineinzuziehen. Diese Denkweise ist geradezu die Spur der Erbsünde in unserem Denken: Indem wir von der Welt auf Gott schließen und dann wieder zurück von Gott auf die Welt, stehen wir in einer Art Herrschaftsdenken mit unseren Denkprinzipien noch über Gott und Welt. Aber damit würde man auch Gott wie einen Teil einer umfassenderen Gesamtwirklichkeit denken, was in sich selbst widersprüchlich wäre.


Bereits Thomas von Aquin hatte hingegen gelehrt: „Da Gott außerhalb der gesamten Ordnung des Geschaffenen steht und alle Geschöpfe auf ihn hingeordnet sind, nicht aber umgekehrt, so ist manifest, dass die Geschöpfe sich real auf Gott selbst beziehen. Aber in Gott gibt es keinerlei reale Relation von ihm auf die Geschöpfe, sondern nur eine gedachte (secundum rationem tantum) Relation, insofern nämlich die Geschöpfe sich auf ihn beziehen.“ (S. th. I q13 a7 c)


Wenn wir also aus unserem „Geschaffensein aus dem Nichts“ die Aussage ableiten, dass Gott uns geschaffen habe, was doch eine Relation Gottes auf die Welt zu implizieren scheint, dann erläutert Thomas von Aquin demgegenüber: Wir setzen damit unseren aus der Anerkennung der Tatsache, dass die Welt in einem „restlosen Bezogensein auf ... / in restloser Verschiedenheit von ...“ aufgehe, gewonnenen hinweisenden (analogen) Gottesbegriff in Beziehung zur Welt. Thomas behauptet, diese Beziehung spiele sich nur noch in unserem Denken ab. Ihr einziges reales Fundament ist die einseitige Beziehung alles Geschaffenen auf Gott. Die gedachte Beziehung Gottes auf uns kann der Tatsache der einseitigen realen Beziehung der Welt auf Gott nichts hinzufügen.


Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass eine solche Behauptung einer nur einseitigen realen Beziehung der Welt auf Gott sozusagen lediglich die Halbierung einer in Wirklichkeit bestehenden wechselseitigen Beziehung und damit eine unzulässige Verkürzung darstellt. Aber auch [243] diese Meinung ist nur ein Rückfall in ein nichtrelationales Denken. Sie verkennt, dass die reale Beziehung der Welt auf Gott nicht zur Welt hinzukommt, sondern eine mit der ganzen Wirklichkeit der Welt gefüllte Relation ist. Innerhalb der Welt kommen alle Relationen zu ihrem jeweiligen Träger hinzu. Alle innerweltlichen Relationen sind wechselseitige Relationen, so dass man die Welt geradezu als den Bereich der Wechselwirkungen definieren muss. Aber das Verhältnis der Welt zu Gott kann gerade nicht nach dem gleichen Modell gedacht werden. Dies zu denken wäre paradoxerweise die wirkliche Verkürzung.


Eine solche Verkürzung, wie man ihr auch in christlicher Theologie immer wieder begegnet, hat überaus unheilvolle Konsequenzen. Sie lässt das sogenannte Theodizeeproblem entstehen, das nachträglich nicht mehr zu lösen ist. Das Theodizeeproblem besteht darin, Gott in dem Sinn für allmächtig zu halten, dass er alles Mögliche könnte, was auch immer man sich ausdenken mag. Und seine Barmherzigkeit müsste darin bestehen, dass wir vor jedem Leid bewahrt werden. Und dann sind natürlich Allmacht und Barmherzigkeit nicht miteinander vereinbar: Entweder ist Gott allmächtig, aber dann nicht barmherzig, weil er einen ja nicht tatsächlich vor dem Leid bewahrt. Oder er ist barmherzig, aber dann nicht allmächtig, weil es ihm offenbar nicht gelingt, das Leid zu verhindern. Aber diese Vorstellungen sowohl von Allmacht wie von Barmherzigkeit sind von vornherein völlig unzureichend. Das Theodizeeproblem lässt sich nicht beantworten, sondern hat selber in sich widersprüchliche Voraussetzungen. Statt den untauglichen Versuch zu unternehmen, auf das Theodizeeproblem zu antworten, wird die christliche Botschaft vielmehr das Theodizeeproblem aus den Angeln heben und durch die Frage ersetzen, was der Glaube für unseren Umgang mit dem Leid ausmacht.


In Wirklichkeit besteht Gottes Allmacht nicht darin, dass er alles Mögliche könnte, sondern dass er aktual in allem mächtig ist, was tatsächlich geschieht. Diese Aussage ist allerdings für sich allein noch keine wohltuende Aussage. Auch die vielen schrecklichen Dinge, die in unserer Welt geschehen, sind solcher Art, dass sie ohne Gott nicht wären. Auch in ihnen ist Gott der Mächtige.


Wohltuend wird das Verständnis der Allmacht Gottes erst, wenn offenbar wird, dass eben dieser in allem mächtige Gott für uns ist. Denn dagegen kommt dann keine Macht der Welt mehr an.


Gottes Barmherzigkeit besteht dann auch nicht darin, dass er dafür zu sorgen hat, dass es einem immer gut geht. Sie bedeutet nach Röm 8,35–39 vielmehr, dass keine Macht der Welt ausreichen kann, uns aus der Gemeinschaft mit Gott herauszureißen. Nicht einmal der Tod hat mehr diese Macht. Sich in Gottes Liebe geborgen zu wissen heißt deshalb, dass man letztlich nicht mehr aus der Angst um sich selber leben [244] muss. Vielleicht lässt sich auch die Religion des Hinduismus darin zusammenfassen, dass es in ihm um die Überwindung von Angst um sich selbst geht.


Außerhalb der Gemeinschaft mit Gott würde jedes Unglück7 in der Welt zum Gleichnis einer fundamentalen Sinnlosigkeit (der „Hölle“); keine gute Erfahrung könnte dagegen ankommen, dass Vergänglichkeit und Tod immer das letzte Wort haben. Aber umgekehrt gilt innerhalb der Gemeinschaft mit Gott, dass jede noch so geringe und vergängliche gute Erfahrung zum Gleichnis der bleibenden Gemeinschaft mit Gott würde, von der kein Leid und kein Tod zu trennen vermöchte. Und der Tod hätte seine Macht verloren, Gleichnis ewiger Sinnlosigkeit zu sein.

7 Vgl. Lk 13,15.

Aber gerade das Letztere, die Gemeinschaft mit Gott, stellt ein Problem dar, das für überhaupt alle Religionen entsteht. Wie kann von einer Barmherzigkeit Gottes für uns Menschen anders die Rede sein, als dass man behauptet, dass der absolute, ewige Gott uns Menschen zugewandt ist? Aber wie ist eine solche Rede damit vereinbar, sich selbst als „aus dem Nichts geschaffen“ zu verstehen? Wenn „Aus dem Nichts Geschaffensein“ heißt, dass die Welt in einer einseitigen realen Relation auf Gott aufgeht, wie kann man dann darüber hinaus von einer realen Relation Gottes auf die Welt sprechen? Wie lässt sich eine Gemeinschaft mit Gott, gar ein Geborgensein in seiner Liebe, aussagen, ohne damit dem eigenen Geschaffensein aus dem Nichts und damit der Anerkennung der Transzendenz und Absolutheit Gottes zu widersprechen?


Diese Frage entsteht wohl zunächst und zu allererst gerade im Christentum. Zum Beispiel schreibt Walter Kasper: „Es ist offenkundig, daß hinter der ständigen, bis heute nicht zur Ruhe gekommenen dialektischen Bewegung in der gesamten Dogmen-und Theologiegeschichte zwischen der Betonung der Einheit und der Betonung der Unterschiedenheit von Gottheit und Menschheit ein ungeklärtes und vielleicht unklärbares Problem steht: das Problem der Vermittlung zwischen Gott und Mensch.“8 Wenn diese Diagnose des „vielleicht unklärbar“ zuträfe, liefe sie auf eine Bankrotterklärung überhaupt aller Theologie hinaus. Aber niemand stört sich im heutigen Mainstream der Theologie an solchen Sätzen.

8 Walter Kasper, Jesus der Christus, Mainz 1974, 283.

Auch zum Beispiel im Islam ist die Frage nach der Vermittlung zwischen Gott und Welt entstanden. Bereis aus dem frühen Islam wird berichtet, dass um die Mitte des 8. Jahrhunderts Dja'd Ibn Dirham die Frage gestellt habe, wie man denn angesichts der Transzendenz Allahs [245] noch mit Recht behaupten könne, dass er zu Abraham oder Mose gesprochen habe9. Dass Ibn Dirham wegen einer solchen Infragestellung der Möglichkeit von Offenbarung verurteilt und verbrannt wurde, ist keine Antwort auf die Frage, sondern zeigt nur das Weiterbestehen des Problems an
.10

9 Vgl. Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie, München 1994, 102; vgl. auch G. Vajda, „Ibn Dirham“, in: The Encyclopedia of Islam, New Edition, Vo. III, Leiden-London 1986, 474.

10 Und nicht etwa, dass „eine Offenbarung Gottes durch sein Wort – übernatürliche Offenbarung – und damit eine Begegnung mit dem Menschen, der dazu erwählt wurde, somit [...] gemeinsames Gedankengut von Christen und Muslimen“ ist. Diese Meinung vertritt Karl H. Singer, „Die Begegnung Gottes mit dem Menschen im Koran – Dargestellt an der Sendung Moses zum Pharao“, in: Günter Riße (Hg.), Zeitgeschichte und Begegnungen – Festschrift für Bernhard Neumann zur Vollendung des 70. Lebensjahres, Paderborn 1998, 200.

Innerhalb des Christentums hat diese Frage ihren vehementesten Ausdruck in der Voraussetzung für Luthers Theologie gefunden: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Diese Frage ist nur verständlich, wenn das Geschaffene als solches in einer nur einseitigen Relation auf Gott steht. Denn dann kann tatsächlich keine geschaffene Qualität jemals ausreichen, Gemeinschaft mit Gott zu begründen.11 Aber wie ist dann noch Gemeinschaft mit Gott möglich? Die Trennung der Christen untereinander, die aus dieser Frage Luthers entstand, ist wie ein Anzeichen dafür, dass auch die Christen ihren eigenen Glauben oft nur wie im verschlossenen Briefumschlag weitergeben, ohne ihn wirklich zu verstehen.

11 Vgl. Peter Knauer, „Zum Verstehensgrund der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, in: Cath(M) 56 (2002) 263–280.

Aber für überhaupt alle Religionen entsteht die Frage, wie eine Gemeinschaft mit dem Ewigen und Absoluten aussagbar sein soll. Wie kann man die Anerkennung der alles Begreifen übersteigenden Transzendenz des Ewigen und Unbedingten wahren und zugleich sagen, es sei uns Menschen barmherzig zugewandt?

III.   Die Antwort der christlichen Botschaft

Die christliche Botschaft gibt auf die Frage, wie man eine Gemeinschaft mit Gott aussagen kann, ohne damit die Anerkennung der Absolutheit und Transzendenz Gottes in Frage zu stellen, eine Antwort, in der auch die tiefste Wahrheit aller anderen Religionen nicht etwa überboten wird, sondern ganz an den Tag kommt.

Angesichts der Einseitigkeit der realen Relation des Geschaffenen auf Gott macht die christliche Botschaft durch ihren Inhalt verständlich, [246] wie man dennoch auch von einer Relation Gottes auf die Welt sprechen und damit von einer Gemeinschaft von Menschen mit Gott sprechen könne. Die Grundinhalte der christlichen Botschaft bestehen in ihrem trinitarischen Gottesverständnis, in ihrer Berufung auf eine Menschwerdung des Sohnes und in ihrem Verständnis der Gnade des Glaubens als unseres Erfülltseins vom Heiligen Geist. Von der Dreifaltigkeit Gottes spricht die christliche Botschaft, um unsere Gemeinschaft mit Gott als ein Hineingenommensein in die ewige Liebe zwischen Gott und Gott, nämlich dem Vater und dem Sohn, aussagen zu können. Diese Liebe ist selbst Gott, der Heilige Geist.


Gottes Liebe hat ihr Maß nicht an etwas Geschaffenem, sondern lässt sich nur als ewig und unbedingt verstehen. Die drei göttlichen Personen sind nicht drei Götter, sondern drei untereinander verschieden vermittelte Relationen der einen göttlichen Wirklichkeit auf sich selbst. Sie sind drei Selbstpräsenzen dieser einen göttlichen Realität. Der Vater ist unmittelbarer Selbstbezug der einen göttlichen Wirklichkeit; der Sohn ist eine zweite Relation der einen göttlichen Wirklichkeit auf sich selbst, die vermittels der ersten Relation zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Der Heilige Geist ist als die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn selber dritte, durch beide vermittelte Relation der einen Wirklichkeit Gottes auf sich selbst.


Wenn Gottes Liebe zur Welt nicht an der Welt ihr Maß hat, dann kann man sie auch nicht an der Welt ablesen. Dies gilt im Unterschied zur Geschöpflichkeit der Welt: Geschaffen ist alles in genau dem Maß, in dem es ist. Deshalb sagten wir, muss Geschaffensein an der Welt selbst erkennbar, ablesbar sein. Aber Gottes Gnade hat nicht ihr Maß an der Welt. Sie kann nicht an der Welt abgelesen werden, sondern bleibt an der Welt verborgen. Sie kann nur dadurch in universal verkündbarer Weise offenbar werden, dass sie in menschlichem Wort zur Wirklichkeit der Welt dazu gesagt wird. Die Gnade besteht darin, dass wir in die ewige Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn aufgenommen sind und dass uns dies offenbar wird.


Dafür beruft sich die christliche Botschaft auf die Menschwerdung des Sohnes. Der Mensch Jesus ist in dem, was seine menschliche Grundselbstpräsenz ausmacht (die sonst den Menschen zu einer menschlichen Person macht), hineingenommen in eine göttliche Selbstpräsenz. Die Wirklichkeit Gottes ist mit diesem Menschen verbunden durch die Relation der göttlichen Selbstpräsenz, die wir den Sohn nennen. Weil sie seine letzte, alles tragende Selbstpräsenz ist, lässt sie ihn auch in seinem Menschsein, dem durchaus weiterhin eine menschliche Selbstpräsenz zukommt, eine göttliche Person sein. So kann dieser Mensch in menschlichem Wort eine Wahrheit sagen, die göttlich ist: Unser Anteilhaben an [247] seinem Verhältnis zum Vater, das eine Beziehung Gottes auf Gott ist, nämlich der Heilige Geist.


Dieses Angebot der Gnade Gottes kann der Mensch nicht aus eigener Kraft annehmen, sondern allein kraft dessen, dass er von vornherein „in Christus geschaffen“ ist. So wird auch Gottes Liebe durch ihre Offenbarung in der Menschwerdung des Sohnes nicht größer, sondern wird offenbar in ihrer Unüberbietbarkeit von Anfang an. Nach dem christlichen Glaubensbekenntnis ist die ganze Welt bereits „in Christus geschaffen“, das heißt, hineingeschaffen in die ewige Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn. Dieser Urstand der Welt wird durch die Menschwerdung des Sohnes offenbar. Handelt es sich also nur um ein bloßes Offenbarwerden eines von vornherein bestehenden Sachverhalts, so dass dieses Offenbarwerden gleichsam nur deklaratorische oder rein informative Bedeutung hätte, ohne dass damit irgendetwas Neues geschähe? In Wirklichkeit besteht Gottes Liebe von Anfang an darin, auf ihre Offenbarung abzuzielen. Die Offenbarung hat deshalb nicht nur deklaratorischen Charakter, sondern sie ist selber der offenbare Vollzug der Liebe Gottes. Gottes Liebe ist darauf aus, dass wir uns von Gott geliebt wissen sollen.


Wo jemand sich in Gottes Liebe geborgen weiß, handelt er letztlich nicht mehr aus der Angst um sich selber, sondern kann ein liebevoller und wohlwollender Mensch sein. Unsere Erlösung besteht in der Entmachtung der Angst, der sonst an der Wurzel aller Knechtschaft liegenden Furcht vor dem Tod, von der Hebr 2,15 handelt. Der Glaube selbst ist unsere Erlösung, und er beruft sich auf ein Wort, um dessentwillen Jesus „von den Sündern solchen Widerstand gegen sich erduldet hat“ (Hebr 12,3). Die erlösende Kraft des Kreuzes lässt sich nur daraus verstehen, dass Jesus um seiner Botschaft willen und weil er für diese Anhänger gefunden hat, umgebracht wurde.


In der Sicht der christlichen Botschaft ist überhaupt alle wahre Liebe und alle Selbstlosigkeit unter Menschen nicht deren eigene Leistung, sondern das Geschenk Gottes. Die christliche Botschaft behauptet, dass jeder wahrhaft Liebende seine Liebe selbst als Geschenk erfährt. Lieben kann man nur aus der Gewissheit heraus, selber längst geborgen zu sein. Deshalb heißt es im Johannesevangelium: „Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.“12 Die Wahrheit tut jeder, der aus der Liebe lebt. Über [248] ihn sagt Jesus: Würde er der klaren Verkündigung der christlichen Botschaft begegnen, dann würde er in ihrem Licht voll Freude erfahren, dass er längst aus der Gemeinschaft mit Gott gelebt hat, die hier verkündet wird.


12 Aus einem solchen Text wird zum Beispiel in der neuen schwedischen Bibleübersetzung die folgende Aussage: „Aber der, welcher der Wahrheit gemäß handelt, er kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass er tut, was Gott will.“ So geht verloren, dass es nicht nur um eine Handlungsnorm geht, der man folgt, sondern um ein in seinem eigenen Wesen wahres und Wahrheit wirkendes Handeln, und nicht nur um ein Handeln nach göttlichen Geboten, sondern um ein von der Gegenwart Gottes erfülltes Handeln, um ein Handeln, das sich innerhalb der Liebe des Vaters zum Sohn abspielt und von ihr getragen ist.

Damit bestätigt die christliche Botschaft letztlich die Wahrheit aller Religionen und macht deren Grundanliegen universal verkündbar. Wie kann man angesichts der Nichtselbstverständlichkeit von Gemeinschaft mit Gott dennoch mit den Religionen sagen, dass wir Menschen im letzten geborgen sind? Dazu bedarf es des trinitarischen, inkarnatorischen und pneumatologischen Gottesverständnisses. Dieses Verständnis bringt die eigene Wahrheit aller wirklichen Religionen endgültig an den Tag.

IV.   Interiorismus

<>Im folgenden soll deshalb gegenüber den drei oben genannten Verhältnisbestimmungen Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus noch eine weitere Möglichkeit bedacht werden. Für sie könnte die Formel stehen: „Christus in den Religionen“13, und als Name für diese Verhältnisbestimmung sei „Interiorismus“ vorgeschlagen.14

13 Diese Formel findet sich bereits in dem Text der Internationalen Theologenkommission vom 30. September 1996: „Das Christentum und die Religionen“, als Arbeitshilfe 136 hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1996. Dort heißt es in n. 9: „Auf vielfältige Weisen hat man versucht, die verschiedenen theologischen Ansätze zu diesem Problem zu klassifizieren. Werfen wir einen Blick auf einige dieser Klassifizierungen: Christus gegen die Religionen, in den Religionen, über den Religionen, neben den Religionen. Ekklesiozentrisches Universum oder exklusive Christologie; christozentrisches Universum oder inklusive Christologie; theozentrisches Universum mit einer normativen Christologie; theozentrisches Universum mit einer nichtnormativen Christologie. Manche Theologen übernehmen die dreifache Unterscheidung Exklusivismus, Inklusivismus, Pluralismus, die parallel zu einer anderen gesehen wird: Ekklesiozentrismus, Christozentrismus, Theozentrismus. Da wir eine dieser Einteilungen wählen müssen, um unsere Überlegungen fortzuführen, entscheiden wir uns für die letzte, die wir, wenn nötig, um die anderen ergänzen werden.“ Die erwähnte Formulierung „Christus in den Religionen“ wird jedoch in dem Dokument, wie es scheint, nicht wieder aufgegriffen.

14 Die Bezeichnung mag an eine Formulierung von Augustinus erinnern, wonach Gott dem Menschen innerlicher ist als sein eigenes tiefstes Innere: Augustinus Hipponensis, Confessionum libri tredecim, lib. 3, cap. 6, linea 5: tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo. [CPL 0251 SL 27 (L. Verheijen, 1981)]. Der Begriff „Interiorismus“ wurde auch bereits von Gerhard Gäde, „Der Zumutungscharakter der christlichen Botschaft Seine Bedeutung für eine Theologie der Religionen“, in: FZThPh 49 (2002) 166B188, gebraucht (184f).

Vom Inklusivismus unterscheidet [249] sich der Interiorismus vor allem dadurch, dass er keine Superiorität beansprucht, als würde die christliche Botschaft andere Religionen überbieten wollen. Sie versteht ihre Aufgabe vielmehr geradezu umgekehrt als einen Dienst an der von ihr selbst anerkannten Unüberbietbarkeit aller wahren Religion. Auch hier gilt, dass Christus nicht gekommen ist, um zu herrschen, sondern um zu dienen (vgl. Mt 20,28).

Vom Pluralismus würde sich diese Verhältnisbestimmung eben durch ihren Dienstcharakter für die anderen Religionen unterscheiden. Anstatt sie überbieten oder gar verdrängen zu wollen, würde die christliche Botschaft dazu beitragen, die unüberbietbare Wahrheit aller wirklichen Religionen definitiv an den Tag zu bringen.


Worin könnte der Dienst des christlichen Glaubens an der Unüberbietbarkeit aller wahren Religion bestehen? Dies soll zunächst am Verhältnis der christlichen Botschaft zur jüdischen Religion dargestellt werden.


Hier ist das erstaunlichste Phänomen, dass der christliche Glaube die Heilige Schrift der Religion Israels ohne alle Abstriche übernimmt. Vor der Entstehung der neutestamentlichen Texte und später in diesen selbst wird die Heilige Schrift Israels als die Autorität schlechthin zitiert. Wenn im Neuen Testament von „der Schrift“ die Rede ist oder von „Mose und allen Propheten und allen Schriften“, dann geht es um die Heilige Schrift der Juden. Sie wird von der christlichen Botschaft als nunmehr „erfüllt“ verstanden. Weit davon entfernt, die Schrift Israels etwa durch das Neue Testament ersetzen zu wollen, versteht sich das Neue Testament als eine Lichtquelle, in deren Licht die tiefste Bedeutung der Schrift Israels voll an den Tag kommt.

Diese Bedeutung wird wohlgemerkt nicht erst durch die christliche Botschaft hergestellt, sondern nur herausgehoben. Man könnte dies mit dem Phänomen des Fluoreszierens vergleichen. Es gibt graue Minerale, die unter dem Licht einer bestimmten Wellenlänge wie von innen beleuchtet farbig aufstrahlen. Diese Eigenschaft kommt ihnen von vornherein zu, aber sie manifestiert sich erst unter dieser Lichtquelle.

Man könnte die gesamte Heilige Schrift der Juden in der Bundesformel zusammengefasst sehen: „Ihr seid mein Volk und ich bin euer Gott.“ Wenn Gott als der Schöpfer der Welt der in allem, was existiert, Mächtige ist, dann lässt sich nichts Größeres als Gemeinschaft mit ihm aussagen. Auch die christliche Botschaft kann die Bundesformel auf keine Weise überbieten. Es gibt nichts Höheres als Gemeinschaft mit Gott.


[250] Allerdings sagt Paulus in 2 Kor 3,14, auf der Verlesung der Schrift Israels liege eine „Hülle“, die erst in Christus abgetan werde15. Dies scheint zu bedeuten, dass es eine Verstehensschwierigkeit gegenüber der Schrift Israels gibt, die erst von der christlichen Botschaft her aufgehoben wird. Erst dann kommt die tiefste Bedeutung der Schrift Israels voll an den Tag. Gerade die christliche Bezeichnung der Schrift Israels als „Altes Testament“ bedeutet ein neues und definitives Verständnis dieses Textes.

15 In der deutschen Einheitsübersetzung wird diese Stelle vollkommen falsch in der folgenden Weise wiedergegeben: „Bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem Alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird, und es bleibt verhüllt, dass er in Christus ein Ende nimmt.“ Es ist nicht der Alte Bund, der in Christus ein Ende nimmt, sondern die Hülle wird abgetan!

Von Seiten des Christentums ging es ursprünglich nicht darum, an die Stelle der jüdischen Religion zu treten. Vielmehr gingen die an Jesus Christus glaubenden Juden, soweit es an ihnen lag, weiter in den jüdischen Tempel (vgl. Apg 3,1; 5,25.42; 21,26–30). Denn in ihrer Sicht war bereits die Schrift Israels in einem wahren Sinn Gottes Wort. Für die Christen war bereits die Schrift Israels – nunmehr als Altes Testament neu und definitiv verstanden – vollgültiges (und nicht etwa defizientes) Zeugnis für ihren eigenen Glauben. Der johanneische Christus sagt: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab.“ (Joh 5,39)


In einer durchaus vergleichbaren Weise wird sich Paulus in Athen für seine Verkündigung des Vaters Jesu Christi sogar auf griechische Dichter berufen: „Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts.“ (Apg 17,28)

Was ergibt sich daraus für das Verhältnis zu den andern Religionen? Es kann nicht der Sinn des Christentums sein, andere Religionen zu ersetzen. Wie es im Urchristentum Glaubende aus dem Judentum gab, die weiter in den Tempel gingen, so müsste die Begegnung mit dem christlichen Glauben einen Buddhisten nicht aus seiner religiösen Kultur herausreißen. Denn die Vier Edlen Wahrheiten des Buddhismus über das Leiden, die Entstehung des Leidens, die Aufhebung des Leidens und den Weg dazu16 bleiben auch für denjenigen, der aus dem Buddhismus zum Glauben an Jesus Christus kommt, vollkommen wahr. Der Dienst des Christentums an diesen Wahrheiten besteht gerade darin, ihre Unüberbietbarkeit und Unersetzbarkeit definitiv an den Tag zu bringen.

16 Vgl. Hajime Nakamura, Grundlehren”, 21 [s. Anm. 5].

Und wie könnte der christliche Glaube anders in der Welt verkündet werden als unter der Voraussetzung, dass alles bereits in Christus ge[251]schaffen ist? Nach der christlichen Gnadenlehre kann niemand das Angebot der Gnade Gottes aus eigener Kraft annehmen, wenn er nicht längst unter dem Einfluss der Gnade Gottes steht. Wenn dies nicht zu einem „regressus in infinitum“ werden soll, dann muss die christliche Botschaft davon ausgehen, dass überhaupt alle Menschen im Voraus zu allem eigenen Tun in Wahrheit die schon längst von Gott geliebten Menschen sind. Deshalb muss auch in den anderen Religionen Christus schon längst gegenwärtig sein. Das Christentum würde sich nur selber völlig missverstehen, wollte es wahre Religionen bekämpfen oder wollte es an ihre Stelle treten.


In der Geschichte des Christentums entstand der Satz: „Außerhalb der Kirche kein Heil“. Recht verstanden bedeutet dieser Satz: Es gibt kein anderes Heil als das von der Kirche verkündete. Heil kann nur in der Gemeinschaft mit Gott bestehen, und diese wird nur dann recht verstanden, wenn sie nicht von geschaffenen Bedingungen abhängt, sondern verlässlich ist. Das ist sie aber nur als eine Liebe von Gott zu Gott, in die die Welt hineingeschaffen worden ist. Das Christentum behauptet, dass dies die eigentliche, tiefste Wahrheit überhaupt aller wirklichen Religion ist. Weit davon entfernt, deren Wahrheit überbieten zu wollen, bringt die christliche Botschaft gerade deren eigene Wahrheit voll an den Tag.


Die 34. Generalkongregation der Gesellschaft Jesu hat diese Sicht in ihren „Ergänzenden Normen“ zu ihren Satzungen in der n. 265 in der folgenden Weise zum Ausdruck gebracht: „In Anbetracht der Spaltungen, Missbräuche und Konflikte, zu denen die Religionen, auch das Christentum, im Laufe der Geschichte geführt haben, versucht der Dialog, der einigenden und befreienden Kraft, die jeder Religion innewohnt, zum Durchbruch zu verhelfen und so die Bedeutung der Religionen für das Wohl der Menschheit, für die Gerechtigkeit und für den Frieden in der Welt hervorzuheben.“ Die Spaltungen, Missbräuche und Konflikte kommen immer nur aus einem Missverständnis von Religion. Wird dagegen Religion nicht als menschliche Leistung, sondern als ein letztes Geborgensein verstanden, dann kann gerade die christliche Botschaft dieser einigenden und befreienden Kraft, die jeder Religion innewohnt und eigentlich eine unüberbietbare Wirklichkeit ist, dadurch zum Durchbruch verhelfen, dass sie die Bedeutung der Religionen „hervorhebt“. Sie tut dies, indem sie sich selber durch ihren Inhalt als „Wort Gottes“ und damit als Selbstmitteilung Gottes verständlich macht und damit auch die tiefste Wahrheit der Religionen, in denen allen es letztlich um Gemeinschaft mit Gott geht, definitiv an den Tag bringt.
[252]

Zusammenfassung

An Stelle von Exklusivismus, Inklusivismus oder Pluralismus bietet sich eine neue Verhältnisbestimmung der christlichen Glaubens zu den anderen Religionen an, für welche die Bezeichnung „Interiorismus“ vorgeschlagen wird. Die christliche Botschaft versteht sich nicht als Überbietung der anderen Religionen, sondern als Dienst an ihrer tiefsten Wahrheit. In allen wirklichen Religionen geht es letztlich um ein Geborgensein in der Gemeinschaft mit Gott, über die hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Sie ist aber nur dann mit der Anerkennung der Transzendenz Gottes vereinbar, wenn sie darin besteht, in eine Liebe Gottes zu Gott aufgenommen zu sein.


[Zurück zum Beginn] [Zurück zur Bibliographie von Peter Knauer]