Letzte Aktualisierung:  17. September 2004, PK

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Peter Knauer SJ

Ökumenische Gedanken:

»Die Schrift allein« oder / und »Schrift und Tradition«?


Erschienen in:

Communitas. Péri­odique bime­striel: Foyer Catholique Européen, Septembre 2004, 12
13.


Evangelische Christen berufen sich auf das Prinzip »die Schrift allein«. Das Wort »allein« gebrauchen sie aber für Verschiedenes: »Gott allein« wirkt alles in allem; »Christus allein« ist unser Erlöser, »das Wort allein« begründet den Glauben, »allein durch Gnade« haben wir Gemeinschaft mit Gott; »der Glaube allein« bringt uns in das rechte Verhältnis zu Gott. Eines allein und doch Mehreres?

Katholiken stellen dem »allein« ein »und« entgegen. Unser Glaube beruft sich auf »Schrift und Tradition«. »Gott und Mensch« wirken zusammen; es gilt: »Christus und die Kirche«; »Gnade und Freiheit«, »Wort und Sakrament«; »Glaube und Werke«. Ist das reformatorische »allein« nicht eine ungute Engführung? Ist nicht unsere Sichtweise weiter und umfassender?

Jedenfalls streitet man sich seit mehr als 450 Jahren. Selbst ökumenische Gespräche scheinen nicht weiterzuführen. Kann nicht jeweils nur eines von beidem wahr sein? Viele können sich eine Verständigung nur vorstellen, wenn die evangelische Seite unsere Auffassung übernimmt und damit die eigene ablegt.

Aber gerade am Beispiel der beiden Formeln »die Schrift allein« oder »Schrift und Tradition« lässt sich zeigen, dass es in Wirklichkeit um ein und dieselbe Wahrheit in unterschiedlicher Sprache geht. Dasselbe Wort »Schrift« wird nämlich in den beiden Formeln in einer verschiedenen Bedeutung gebraucht. Und dies ist legitim und sogar hilfreich. Erst wenn man dies erfasst, wird eine Verständigung möglich.

In der Formel »die Schrift allein« bezeichnet das Wort »Schrift« die »bereits richtig verstandene Schrift«, die Schrift nämlich in dem Sinn, in welchem sie »Wort Gottes« ist. Das ist sie nicht in beliebigem Sinn, sondern allein in dem Sinn, dass es in ihr um Gottes Selbstmitteilung geht. Denn alles von Gott Verschiedene ist bloße Welt und nicht Gegenstand des Glaubens. Der Glaube beginnt erst, wo wir darauf vertrauen, dass Gott diese Welt mit ein und derselben Liebe angenommen hat, in der er seinem Sohn von Ewigkeit her zugewandt ist. Der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um uns dies in menschlichem Wort sagen zu können. Letztlich kann es nur aufgrund der Menschwerdung Gottes ein menschliches Wort geben, das wirklich Gottes Wort ist. Das ist der Gegenstand und der Sinn der ganzen Heiligen Schrift. Die Heilige Schrift ist allein in dem Sinn Gottes Wort, dass es in ihr um unser Anteilhaben am Verhältnis Jesu zu Gott geht. An Jesus als an den Sohn Gottes glauben, bedeutet, sich und die ganze Welt in die ewige Liebe des Vaters zu ihm als seinem Sohn von Ewigkeit her aufgenommen zu wissen. »Wort Gottes« ist in diesem Sinn das letzte Wort über die gesamte Wirklichkeit der Schöpfung; und »Wort Gottes« in diesem Sinn ist ein Wort, dem niemand etwas hinzuzufügen hat. In dem Sinn also, in dem die Schrift »Wort Gottes« ist und so verstanden wird, gilt von ihr: »Die Schrift allein«.

In der katholischen Formel »Schrift und Tradition« hat das Wort »Schrift« eine andere Bedeutung. Es meint nur die Bibel als Buch, aber fast noch bevor man sie überhaupt aufgeschlagen hat und jedenfalls noch bevor man sie verstanden hat. »Schrift« bedeutet in dieser Formel »die erst noch richtig zu verstehende Schrift«. Das ist nicht dasselbe wie »die bereits richtig verstandene Schrift«, obwohl es beide Male um dasselbe Buch, eben die Bibel geht.

Wozu ist die Heilige Schrift da? Sollen wir aus ihr erfahren, was es bis vor etwa 2000 Jahren im Vorderen Orient für Pflanzen und Tiere gegeben hat? Lesen wir die Schrift als Heilige Schrift zum Zweck naturwissenschaflicher Belehrung? Darauf antwortet die katholische Formel, dass der wirkliche Sinn der Heiligen Schrift die »Tradition« ist, nämlich die »Weitergabe« des Glaubens. In der Formel »Schrift und Tradition« ist mit »Tradition« die Weitergabe desjenigen Glaubens gemeint, für den die »Schrift« das früheste uns heute zugängliche Zeugnis ist. Auch für uns als gläubige Katholiken ist nur diejenige Überlieferung verbindlich, in der es um den Glauben selbst geht. Der Glaube besteht auch für uns in der Gewissheit, in die Liebe des Vaters zum Sohn aufgenommen zu sein und deshalb nicht mehr aus der Angst um uns selber leben zu müssen. Wollen wir die Heilige Schrift richtig verstehen, nämlich in dem Sinn, dass es in ihr um das »Wort Gottes« geht, dasjenige Wort, in dem Gott sich selbst schenkt und uns mit seinem Heiligen Geist erfüllt, dann müssen wir sie unter dem Blickwinkel des Glaubens lesen. Der Sinn der Schrift ist die Weitergabe (Tradition) des Glaubens.

Mit der evangelischen Formel »die Schrift allein« ist also nicht gemeint, dass es in theologischer Argumentation genügt, nur die Bibel zu zitieren, und man nichts mehr erklären muss. Und die katholische Formel »Schrift und Tradition« will nicht sagen, dass man außer Schriftzitaten möglichst viele Zitate von Konzilien oder der frühen Kirchenväter oder zum Beispiel des hl. Thomas von Aquin heranziehen solle. Es geht vielmehr in beiden Formeln um den Sinn der Schrift, nämlich der bereits als »Wort Gottes« verstandenen Schrift (die evangelische Formel) oder der erst noch als »Wort Gottes« zu verstehenden Schrift (die katholische Formel).

Dabei hängt natürlich alles davon ab, dass man erfasst, was in der christlichen Botschaft unter »Wort Gottes« zu verstehen ist. Als Christen meinen wir nicht wie etwa die Zeugen Jehovahs, dass Gott tausend Dinge mitteilt, sondern für uns kann nur das »Wort Gottes« sein, worin Gott uns seine eigene Gegenwart schenkt, worin er sich also selber mitteilt. In keinem anderen Sinn kann die Schrift als »Wort Gottes« verstanden werden. Auch die Schrift ist nur als verkündigte und ausgelegte Schrift »Wort Gottes«. »Wort Gottes« geschieht da, wo eine Mutter ihrem Kind den Glauben weitergibt.

Die katholische Formel »Schrift und Tradition« würde deshalb völlig missverstanden, wenn man meinen wollte, dass sich in der Schrift nur ein Teil der Offenbarung Gottes findet und ein anderer Teil in der Tradition. Denn Gottes Selbstmitteilung hat keine Teile, und unser Glaube ist deshalb auch nicht additiv zusammengesetzt. Alle einzelnen Glaubensaussagen können immer nur das eine und einzige Glaubensgeheimnis unseres Anteilhabens am Verhältnis Jesu zu Gott erläutern und entfalten. Deshalb ist der Glaube von seinem Wesen her von vornherein ein einziger (vgl. Eph 4,5).

Auch Luther hat durchaus gewusst, dass man die Schrift falsch interpretieren, ihr sozusagen eine »wächserne Nase« (WA 2; 116,25) machen kann, die sich beliebig biegen und drehen lässt. Auch für ihn genügte es deshalb nicht, einfach nur die Schrift zu zitieren. Gegen Leute, die so mit der Schrift umgingen, argumentierte er mit Recht, dass die Texte der Schrift allein in dem Sinn Wort Gottes sind, in welchem sie »Christum predigen und treiben« (WA.DB 7; 385,26).

Der gemeinsame Sinn beider Formeln besteht also im Glauben an Jesus Christus. In beiden Kirchen lassen sich alle einzelnen Glaubensaussagen darauf zurückführen, dass wir uns im Glauben in die Liebe des Vaters zum Sohn aufgenommen wissen, die der Heilige Geist ist. »Niemand kann sagen: Jesus ist Herr, außer im Heiligen Geist« (1 Kor 12,3). Niemand kann einen größeren Glauben haben, und niemand einen geringeren. Dieser Glaube ist unteilbar und ein und derselbe, wo auch immer er besteht. Alle, die diesen Glauben haben, stimmen bereits faktisch im Glauben überein, selbst wenn es ihnen aufgrund ihrer unterschiedlichen Sprechweisen noch nicht gelungen ist, ihre tatsächliche Übereinstimmung auch ausdrücklich festzustellen. Dazu wird es oft erst noch des Dolmetschens zwischen den verschiedenen theologischen Sprachen bedürfen. Das vorstehend Gesagte stellt einen solchen Dolmetsch-Versuch dar.




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