Letzte Aktualisierung:  08. Februar 2011, PK

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Auch allen Nichtglaubenden zugänglich

Warum man Ethik nicht religiös im Gebot der Feindesliebe, sondern durch die Vernunft begründen sollte - Aus der Sicht eines katholischen Fundamentaltheologen

Es gilt als besonders fromm, ethische Normen aus dem Glauben abzuleiten. Doch damit erweist man der christlichen Botschaft nach Einschätzung von Peter Knauer einen schlechten Dienst.

VON PETER KNAUER


Erschienen in:
Frankfurter Rundschau, 10. Februar 2004, Nr. 34, S. 19 (Forum Humanwissenschaften).


ZUSAMMENFASSUNG:

Ethische Normen müssen mit Vernunft begründet werden. Die Bedeutung des Glaubens besteht darin, den Menschen aus der Macht derjenigen Angst um sich zu befreien, die an der Wurzel aller Unmenschlichkeit steht.

Viele meinen, es gehe im Christentum vor allem um Handlungsanweisungen, also um Ethik. Sie halten das Liebesgebot für die Mitte des Glaubens. Durch das Gebot der Feindesliebe übertreffe das Christentum jede säkulare Ethik und großenteils auch die Ethik anderer Religionen. Haben nicht die Kirchen selbst immer ihren Auftrag darin gesehen, die Menschen "Mores zu lehren"? Und hat nicht auch der Staat oft an den Kirchen am meisten ihren versittlichenden Einfluss geschätzt? Wenn die Kirchen gut funktionieren, meinen viele, bräuchte man weniger Polizei. Und in der Tat äußern sich die Kirchen auch heute noch mit Vorliebe und geradezu in erster Linie zu ethischen Themen.

Es ist wahr, dass es den Kirchen auch um Ethik geht: Die christliche Botschaft möchte zu einem wohlwollenden, mitmenschlichen Verhalten führen. Aber dies erreicht sie gerade nicht durch eine Intensivierung moralischer Appelle. Vielmehr will die christliche Botschaft aus der Macht dessen befreien, was daran hindert, menschlich anstatt unmenschlich zu handeln. Im christlichen Glauben geht es im Voraus zu allen guten Werken um die Gewissheit einer Gemeinschaft mit Gott, aufgrund derer man nicht mehr aus der Angst um sich selber leben muss. Die guten Werke sind als Frucht des Glaubens zu verstehen.

Der Hebräerbrief (2,15) nennt als Ziel der Menschwerdung des Sohnes Gottes, "diejenigen zu befreien, die allesamt aus Todesfurcht ihr ganzes Leben hindurch zur Knechtschaft gezwungen waren". Mit Knechtschaft ist unverantwortliches Handeln gemeint, das nicht frei ist, sondern aus einer Zwangslage hervorgeht. Die Zwangslage besteht in der Verwundbarkeit und Vergänglichkeit des Menschen, die mit seiner Todesverfallenheit einhergeht. Sie nötigt dazu, dass man sich um jeden Preis zu sichern versucht. Notfalls ist man bereit, über Leichen zu gehen. Könnte es sein, dass verantwortungsloses, egoistisches, unmenschliches Verhalten letztlich immer in einer Angst des Menschen um sich selber wurzelt?

In seinem Gedicht Der Zweifler formuliert Bert Brecht als Kriterium dafür, ob man jemandem Glauben schenken darf: "Aber vor allem / Immer wieder vor allem anderen: Wie handelt man / Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: Wie / handelt man?" Brecht schreibt offenbar bewuss nicht: "wie handelt ihr, die ihr das sagt". Eine Botschaft kann auch dann vollkommen wahr und gut und durch ihren Inhalt glaubenswürdig sein, wenn sich der Verkünder selbst nicht an sie hält. 

 

Der Autor

 

 

Der Jesuit Peter Knauer war bis zu seiner Emeritierung Professor für Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen und ist jetzt Mitarbeiter am Foyer Catholique Européen und am Office Catholique d'Information et d'Initiatives pour l'Europe in Brüssel.



Diese Angst muss nicht von vornherein manifest sein. Luther hat dies in seinem Großen Katechismus bei der Auslegung der Zehn Gebote erläutert. Das erste Gebot lautet: "Du sollst keine anderen Götter neben mir haben." Luther stellt die Frage, was denn "einen Gott haben" bedeutet. Er antwortet zunächst mit einer Leerformel, in die sowohl Gott wie Abgott hineinpassen: "Einen Gott haben, heißt etwas haben, wovon man sich alles Gute erwartet und wozu man in jeder Not seine Zuflucht nimmt." In diesem Sinn ist es unvermeidlich, dass jeder Mensch einen "Gott" hat, ganz gleich, ob er ihn so nennt oder nicht. Jeder Mensch hat etwas, wonach er sein Leben ausrichtet. Das kann zum Beispiel das Geld sein. Wer Geld und Gut hat, sagt Luther, "sitzt fröhlich und unerschrocken, als säße er mitten im Paradies." Von Angst ist also zunächst überhaupt nichts zu sehen. Es braucht aber nur jemand zu kommen, der einem das Konto sperren kann, dann wird die Angst manifest.


Entgötterung der Welt


Aus seiner ursprünglichen Leerformel entwickelt Luther in einem zweiten Schritt ein strenges Kriterium dafür, ob man denn den richtigen Gott hat. Solange man seinen Gott erst haben muss, um dann auf ihn vertrauen zu können, sind Haben und Vertrauen zwei voneinander verschiedene Akte. Dann kann einem das Haben als Voraussetzung des Vertrauens entzogen werden. So bricht das Vertrauen zusammen und schlägt in Verzweiflung um. Ein solcher Gott kann nicht der rechte Gott sein. Wenn dagegen die einzige Weise, seinen Gott zu "haben", das Vertrauen selbst ist, dann hängt dieses Vertrauen nicht von hinfälligen Bedingungen ab. Luther definiert also das Verhältnis zum rechten Gott als die befreiende Alternative zu jeder Form von Weltvergötterung bzw. von Verzweiflung an der Welt. Im Glauben an den rechten Gott geht es um ein Geborgensein, das im Leben und im Sterben Bestand hat und dem Menschen ermöglicht, anders als aus der Angst um sich selber zu leben. Man braucht so nichts in der Welt mehr zu vergöttern.

Die christliche Botschaft beansprucht, Wort Gottes zu sein. Sie führt zunächst die Bedeutung des Wortes "Gott" durch den Hinweis auf unser Geschaffensein ein. Gott selber fällt nicht unter unsere Begriffe, sondern ist größer als alles, was wir denken können. Wir begreifen von ihm immer nur das von ihm Verschiedene, das auf ihn verweist: Gott ist "ohne wen nichts ist". Könnten wir unser Geschaffensein beseitigen, bliebe nichts von uns übrig. So ist Gott nicht in einem bloß potenziellen Sinn "allmächtig", sondern aktual "mächtig in allem", was geschieht.

Die christliche Botschaft behauptet - und hier erst setzt der Glaube ein -, dass dieser Gott uns Gemeinschaft mit sich gibt. Dafür beruft sie sich auf Jesus. An ihn als den Sohn Gottes glauben bedeutet, aufgrund seines Wortes sich und die ganze Welt in die Liebe Gottes zu Gott - des Vaters zu ihm als seinem Sohn von Ewigkeit her - aufgenommen zu wissen. Darin besteht - in einem einzigen Satz zusammengefasst - der christliche Glaube.


Gegenstand des Glaubens ist allein die Gemeinschaft mit Gott, seine Liebe zu uns. Sie hat an nichts Geschaffenem ihr Maß, sondern ist ewig und unbedingt. Gegenstand der Vernunft dagegen ist die Welt einschließlich ihres Geschaffenseins. Nach der christlichen Botschaft ist unser Geschaffensein und unser Sein ein und dasselbe. Wir sind in dem Maße geschaffen, in dem wir sind. Wenn also unser Sein mit der Vernunft erkannt wird, dann müsste dies auch für unser Geschaffensein gelten.

Indem die Glaubenden sich und die ganze Welt als in Gottes Liebe geborgen verstehen, leben sie aus einer Gewissheit, gegen die keine Macht der Welt ankommt. Im Römerbrief schreibt Paulus: "Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendein anderes Geschöpf können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn" (Röm 8,38f.). Das heißt nicht, dass Glaubende ohne Angst lebten. Jesus selbst hat tiefe Angst vor seinem Leiden erfahren. Aber der Glaube ist eine stärkere Gewissheit als alle Angst. Rudolf Bultmann zufolge macht der Glaube "angstbereit" - um durchzuhalten, auch wenn man wegen seiner Lebenseinstellung verfolgt wird.

Nicht nur Christen können gut handeln. Aber wo immer Menschen, die sich nicht als im christlichen Sinn gläubig verstehen, anders als aus der Angst um sich handeln, tun sie dies aus einer Geborgenheit, die in der christlichen Botschaft als Gottes Gnade verstanden wird.

Die spannende Frage ist nun, wie sich der Glaube zur Ethik verhält. Der christliche Glaube bringt keine zusätzlichen Normen mit sich. Seine Bedeutung besteht darin, den Menschen aus der Macht derjenigen Angst um sich selber zu befreien, die ihn daran hindert, seiner sittlichen Einsicht zu folgen. Dann aber müssen die ethischen Normen im Voraus zum Glauben mit der Vernunft erkannt werden können.

Es gilt zwar als besonders fromm, wenn man sich auch und gerade für ethische Normen auf den Glauben beruft. Aber mit dieser Auffassung kann man der christlichen Botschaft nur einen schlechten Dienst erweisen. Man würde damit ihren Anknüpfungspunkt im Menschen zerstören. Die christliche Botschaft setzt zu ihrer Verständlichkeit voraus, dass man bereits von sich aus den Unterschied zwischen menschlich und unmenschlich einsehen kann. Sonst hätte man überhaupt keinen Anlass dazu, sich mit der Botschaft zu befassen. Sie bittet genau deshalb um Gehör, weil sie beansprucht, den Menschen aus der Macht der Angst um sich selber befreien zu können, die an der Wurzel aller Unmenschlichkeit liegt. Wenn der Mensch nicht bereits von sich aus den Unterschied zwischen menschlich und unmenschlich erfassen könnte, würde er eine Botschaft nicht verstehen, die ihm an dem Anteil geben will, was ihm aus seiner Unmenschlichkeit heraushelfen kann. Er wüsste ja noch gar nicht, was Unmenschlichkeit ist.



Das natürliche Sittengesetz


Tatsächlich hat sich die christliche Überlieferung immer auf das so genannte natürliche Sittengesetz berufen. Es wird im Voraus zum Glauben mit der bloßen Vernunft erkannt. Bereits im neutestamentlichen Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25 - 37) sind es gerade die "besonders Religiösen", der Levit und der Priester, die sehend nicht sehen. Sie gehen an einem Menschen vorüber, der von Räubern überfallen und übel zugerichtet liegen gelassen wurde. Sie verdrängen ihre sittliche Einsicht. Der barmherzige Samariter dagegen lässt sich ohne jeden Bezug auf eine religiöse Begründung von fremdem Leid betreffen und wendet sich dem geschundenen Menschen zu.

Manche meinen, dass der christliche Glaube diejenigen sittlichen Forderungen, die mit unserem bloßen Menschsein mitgegeben sind, doch wenigstens verstärke. Aber sittliche Forderungen sind unbedingt und gelten absolut. Sie verstärken zu wollen, liefe darauf hinaus, ihre von vornherein bestehende Unbedingtheit nicht anzuerkennen.

Allenfalls könnte man also den Kirchen für die Ethik eine subsidiäre Funktion zuerkennen. Ureigene Aufgabe der Kirchen ist es, den erlösenden Glauben weiterzugeben. Wem an der Wahrheit des Glaubens gelegen ist, der muss es auch sonst mit der Wahrheit ernst nehmen. Wo Menschen die Einsicht ihres Gewissens verdrängen, müssen sie eigens auf sie aufmerksam gemacht werden. Doch kommt diese Aufgabe den Kirchen nur aushilfs- und ersatzweise zu.

In der Vergangenheit wurde diese Aufgabe oft nur auf eine fast kontraproduktive Weise wahrgenommen. Zwar stehen die zehn Gebote in der Bibel. Aber sobald man ihre Geltung allein daraus begründet, dass sie von Gott offenbart worden seien, werden sie nur wie von außen kommende Forderungen wahrgenommen. Es scheint dann keine andere Alternative zu bestehen, als entweder zu kuschen oder zu rebellieren. Diese beiden falschen Antworten werden im Gleichnis von den beiden Söhnen beschrieben (Lk 15,11 - 32). Der "verlorene Sohn" lässt sich sein Erbe auszahlen und verprasst es in der Fremde; aber auch der daheimgebliebene Sohn, der sich vermeintlich nie etwas hat zuschulden kommen lassen, hat nur wie unter einem Zwang gehandelt. Er ist unmündig geblieben und weit davon entfernt, seinen Vater zu verstehen und ihm zu entsprechen. Er erweist sich als unfähig, sich über die Rückkehr und Rettung seines Bruders zu freuen.

Die christliche Botschaft will als Evangelium, als froh machende, weil Angst entmachtende Botschaft verstanden werden. In ihrem Sinn muss man sich für die Ethik vorwiegend auf eine andere Weise einsetzen.
Anstatt zu bevormunden, sollte Mündigkeit gefördert werden. Zu ethischer Einsicht findet man nicht durch eine Handlungsethik, die einfach nur Normen aufstellt; es ist eher eine Verfahrensethik zu entwickeln, durch die jeder selber die rechten Normen finden kann.

Die ethische Grundmaxime im Christentum, aber auch überhaupt für alle Menschen ist von vornherein eine verfahrensethische: Man soll den Nächsten wie sich selbst lieben, also ihm das tun, was man sich selber wünschte, wenn man an seiner Stelle wäre. Es handelt sich nicht um eine Aufforderung, zuerst sich selber zu lieben. Niemand kann sich selber Geborgenheit schenken. Sondern es geht um eine Ethik, die von der Fähigkeit des Menschen ausgeht, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen.

Der christliche Glaube begründet nicht die ethische Grundmaxime, sondern setzt sie voraus. Aber er will, indem er den Menschen aus der Macht der Angst um sich befreit, ihn fähig machen, der ethischen Verantwortung auch gegen alle Widerstände zu entsprechen. Begründet wird die Ethik von der Vernunft im Voraus zum Glauben. Denn sie muss auch allen Nichtglaubenden zugänglich sein.



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