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Peter Knauer SJ
Nichtreligiöse Ethikbegründung
und christlicher Glaube
Erschienen in:
Orientierung 67 (2003) 124–126.
ZUSAMMENFASSUNG:
Der christliche Glaube setzt die sittliche Ansprechbarkeit des
Menschen voraus. Sie muss sich im voraus zu allem Glauben
begründen lassen. Das Grundprinzip der Ethik lautet: Nur eine
Handlung kann "in sich schlecht" sein, die einen Schaden ohne
"entsprechenden Grund" zulässt oder verursacht und so die Struktur
des Raubbaus hat. Es werden die Grundbegriffe für die ethische
Beurteilung einer Handlung neu erläutert: "Gegenstand", "Absicht",
"Umstände".
Die christliche Botschaft bringt keine zusätzlichen
ethischen Forderungen mit sich, sondern befreit den Menschen aus
derjenigen Angst um sich selber, die sonst an der Wurzel
unverantwortlichen Handelns liegt.
Der Unterschied zwischen menschlich und unmenschlich, verantwortbar und
nicht verantwortbar, muss im Voraus zu aller Religion mit der
bloßen Vernunft zu erkennen sein. Dies zu bestreiten,
hieße, den Anknüpfungspunkt der christlichen Botschaft zu
verlieren. Denn wenn der ethische Anspruch erstmalig durch die
Glaubensverkündigung zum Menschen käme, hätte der
nicht-religiöse Mensch keinen Anlass, die christliche Botschaft
auch nur anzuhören. Diese Botschaft beansprucht, den Menschen von
dem befreien zu können, was ihn immer wieder daran hindert, dem
Anspruch seines eigenen Gewissens zu folgen. Dann muss er
natürlich diesen Anspruch bereits im voraus zum Glauben erkennen
können
Ethikbegründung
Das im Grunde unerhört einfache, aber revolutionäre
Grundprinzip der Ethik lautet: Eine Handlung kann nur dadurch »in
sich schlecht« sein, dass sie ohne »entsprechenden
Grund« einen Schaden zulässt oder verursacht.
1
Jede Handlung hat unvermeidlich einen Grund: Man
strebt in ihr einen Wert oder Verbund von Werten an, also etwas, das
man als Nutzen ansieht. Oder man will einen Unwert oder Verbund von
Unwerten vermeiden, also etwas, das man als Schaden ansieht.
Aber der Grund einer Handlung ist dann kein
»entsprechender«, wenn die Handlung letztlich und universal
gesehen gerade den Wert oder Werteverbund, den sie anstrebt,
untergräbt bzw. den Schaden, den sie vermeiden will,
vergrößert. Solche Handlungen haben die Struktur des
»Raubbaus«, der »Kontraproduktivität«.
Ihre Gesamtbilanz ist negativ. Daran lässt sich erkennen, dass sie
nicht zu verantworten sind. Man betreibt Walfang um des dabei erzielten
Gewinns willen. Aber wenn man Walfang in einer Weise betreibt, dass man
insgesamt gesehen die Quellen des Gewinns zerstört, dann besteht
zwischen der Handlung und ihrem Grund keine wirkliche Entsprechung,
sondern ein Widerspruch.
Ein »entsprechender Grund« ist also
nicht einfach nur dasselbe wie ein ernsthafter oder wichtiger oder
schwerwiegender Grund. Es handelt sich vielmehr um einen genauen
Fachterminus, in dem es um die Frage geht, ob zwischen der Handlung und
ihrem Grund eine Entsprechung oder letztlich ein Widerspruch vorliegt.
Die Ethik fordert nicht, das jeweils
Bestmögliche zu tun. Der Unterschied zwischen gut und besser ist
nicht identisch mit dem von schlecht und gut. Nur das schlechte Handeln
ist unzulässig. Gegenüber dem Guten ist das Bessere nicht
geboten, sondern empfohlen. Es wird zu ihm eingeladen.
Es geht deshalb auch in der Ethik nicht – wie man
häufig meint – um die Frage, welche Werte wir wählen sollen,
sondern wie wir den Werten, die wir wählen, auch universal und
nachhaltig gerecht werden. Die Aufgabe ethischer Erziehung besteht
nicht darin, anderen Menschen Wertehierarchien beizubringen. Vielmehr
gilt es, darauf achten zu lehren, wie man die angestrebten Werte auch
auf die Dauer und im ganzen fördert. Man muss nicht zwischen
Geldbeutel und Umwelt eine Hierarchie aufstellen. Der eine spart
Energie um des Geldbeutels willen; und wenn er es richtig macht, dann
freut sich auch die Umwelt. Der andere spart Energie um der Umwelt
willen, und wenn er es richtig macht, freut sich auch der Geldbeutel.
Es geht also auch nicht um eine Ethikbegründung durch
Gütervergleich, in welchem man verschiedene Güter
gegeneinander abwägen wollte. Es geht nur darum, ob man den
tatsächlich gewählten Werten wirklich auch im Kontext der
Gesamtwirklichkeit, soweit man sie überschauen kann, gerecht wird.
Ob der Grund einer Handlung ein
»entsprechender« ist oder nicht, ist völlig
unabhängig davon, ob es dem Handelnden passt oder nicht. Ethik ist
realitätsgebunden. Das ist mit der Berufung auf das sogenannte
»natürliche Sittengesetz« gemeint. »Gut
gemeint« kann das Gegenteil von «gut« sein. Es ist
immer zu fragen, was tatsächlich bewirkt wird. Ob also eine
Handlung die Struktur des Raubbaus hat oder nicht, ist eine objektive
Frage und ist nicht vom Belieben des Handelnden abhängig. Eine
bloße Gesinnungsethik wäre überhaupt keine Ethik.
Für die ethische Beurteilung einer Handlung ist
nach traditioneller Terminologie zwischen dem (gewollten)
»Gegenstand« der Handlung (gemäß dem die
Handlung selbst benannt wird) und einer eventuellen zusätzlichen
»Absicht« einerseits und den »Umständen«
anderseits zu unterscheiden. Von »Gegenstand« und
»Absicht« hängt ab, ob die Handlung gut oder schlecht
ist (Qualität); als »Umstände« kommen nur solche
in Betracht, die bestimmen, in welchem Maß sie gut oder schlecht
ist (Quantität). Aber diese traditionelle Terminologie erfordert
eine genaue Interpretation.
Der »Gegenstand« einer Handlung ist das,
was man in ihr objektiv tun will. Der »Gegenstand« ist
entweder der »entsprechende Grund« der Handlung, oder aber,
falls ihr Grund kein entsprechender ist, der dann eo ipso
»direkt« zugelassene oder verursachte Schaden (die Handlung
erhält in diesem Fall eine von vornherein dem Schaden
gemäß ethisch negativ bewertende Benennung wie
»Diebstahl«, »Lüge«, »Folter«,
»Mord«). Jeder Diebstahl ist Wegnahme fremden Eigentums,
aber Wegnahme fremden Eigentums ist nur dann Diebstahl, wenn ihr Grund
kein »entsprechender« ist; sie ist kein Diebstahl, wenn in
extremer Not die einzige Weise zu überleben in eben der Wegnahme
fremden Eigentums besteht. In ähnlicher Weise ist zwischen
Falschrede und Lüge, zwischen Schmerzzufügung und Folter,
zwischen Tötung und Mord zu unterscheiden.
Über den »Gegenstand« hinaus kann
man eigens von einer »Absicht« nur dann sprechen, wenn eine
erste voll konstituierte Handlung zusätzlich benutzt wird, um eine
zweite Handlung zu ermöglichen. Der »Gegenstand«
dieser zweiten Handlung ist dann natürlich bei der vorausgehenden
Handlung bereits als sie mitbestimmende »Absicht«
präsent. So entsteht der Anschein, dass mit dem
»Gegenstand« einer Handlung deren objektive Seite gemeint
ist, während die »Absicht« das subjektive Element sei.
Aber in Wirklichkeit muss bereits der »Gegenstand« der
Handlung, um überhaupt ethisch relevant zu sein, den Willen des
Handelnden bestimmen. In diesem Sinn muss er von vornherein vom
handelnden Subjekt »beabsichtigt« sein. Soll also im
Unterschied zum gewollten »Gegenstand« einer Handlung
zusätzlich noch eigens von einer »Absicht« die Rede
sein, dann muss damit etwas anderes gemeint sein. Es kann dann von
vornherein nicht um nur eine einzige isolierte Handlung gehen, sondern
es wird um die Verknüpfung mehrerer Handlungen gehen. Zum Beispiel
besucht jemand die Buchmesse aus beruflichem Interesse und würde
dies auf jeden Fall tun; deshalb ist bereits der Besuch der Buchmesse
eine eigene Handlung. Wenn der Betreffende sich aber zusätzlich
von vornherein vornimmt, falls sich beim Besuch der Buchmesse die
Gelegenheit bieten sollte, ein von ihm besonders geschätztes Buch
unbemerkt mitgehen zu lassen, dann ist der »Gegenstand«
dieser zweiten Handlung, der Diebstahl, bereits in der ersten Handlung
als deren zusätzliche »Absicht« anwesend. Die Ethik
hat es also nicht nur mit voneinander isolierten Handlungen zu tun,
sondern geht auch auf die Verknüpfung von Handlungen ein.
Mit den ethisch relevanten
»Umständen« einer Handlung sind quantitative
Bestimmungen gemeint. Zum Beispiel hängt die Schwere eines
Diebstahls von der Höhe der gestohlenen Summe ab, oder auch vom
Grad der Freiheit des Handelnden.
Es gibt ein Prinzip, das als Qualitätssiegel
der Ethik gilt: »Der gute Zweck heiligt nicht das schlechte
Mittel.« Dieses Prinzip setzt voraus, dass Mittel und Zweck zwei
unterschiedliche Handlungen sind. Eine Handlung, die bereits schlecht
ist, weil sie ohne »entsprechenden Grund« einen Schaden
zulässt oder verursacht, kann nicht nachträglich dadurch
saniert werden, dass man sie zur Ermöglichung einer zweiten guten
Handlung benutzt.
Wenn ein Arzt den Fuß eines Patienten
amputieren muss, um sein Leben zu retten, ist die Amputation und die
Lebensrettung ein und dieselbe Handlung. Der Gegenstand der Handlung,
nach dem die Handlung zu benennen ist, ist nicht die Verstümmelung
des Patienten, sondern nur seine Lebensrettung. Ganz anders
verhält es sich zum Beispiel bei der Folter. Man hat den
Entführer eines Kindes ergriffen und möchte durch Folter den
Aufenthaltsort des Kindes herausbekommen. Foltern und den
Aufenthaltsort des Kindes erfahren sind aber deshalb zwei voneinander
verschiedene Handlungen, weil zwischen ihnen ein fremder Wille
intervenieren muss: Der Gefolterte muss klein beigeben. Der Gegenstand
der Folterhandlung besteht darin, durch Schmerzzufügung einen
Willen brechen zu wollen; und dies ist der Fall, ganz gleich zu welchem
weiteren Zweck man es unternimmt. Eine solche Handlung ist in sich
schlecht. Den Aufenthaltsort des Kindes herauszubekommen ist zwar
höchst wünschenswert, aber dieser gute Zweck reicht nicht
aus, ein bereits »in sich schlechtes« Mittel, wie es die
Folter ist, zu heiligen.
Es gibt also nicht nur »in sich
schlechte« Handlungen, sondern eine Handlung kann dadurch
»(mittelbar) schlecht« sein, dass man sie durch eine
»in sich schlechte« Handlung ermöglicht oder durch sie
eine »in sich schlechte Handlung« ermöglichen will.
Glaube
In welchem Verhältnis stehen christlicher Glaube und Ethik
zueinander? Der gesamte christliche Glaube lässt sich in einer
Kurzformel zusammenfassen: An Jesus als den Sohn Gottes glauben
bedeutet, aufgrund seines Wortes sich und die ganze Welt in die ewige
Liebe Gottes zu Gott, des Vaters zum Sohn, aufgenommen zu wissen, die
der Heilige Geist ist.
Gott ist der »in allem Mächtige«.
Gegen die Gemeinschaft mit ihm kommt keine Macht der Welt an (vgl.
Röm 8,35ff). Nicht einmal der Tod kann von ihr trennen.
Der Glaube bringt keine zusätzlichen ethischen
Forderungen mit sich, sondern er befreit aus der Macht derjenigen Angst
des Menschen um sich selbst (vgl. Hebr 2,15), die sonst an der Wurzel
aller Unmenschlichkeit und damit alles Bösen liegt.
In der Lehre von der Rechtfertigung durch Glauben
allein geht es darum, dass nur solche Werke (nicht nur
»richtig«, sondern) »vor Gott gut« sein
können, die aus der Gemeinschaft mit Gott hervorgehen. Nicht die
Früchte machen den Baum gut, sondern nur ein guter Baum bringt
gute Früchte. Richtig handeln kann man auch ohne Glauben. Wenn
jemand im Selbstbedienungsladen nicht stiehlt, sondern die Ware
ordnungsgemäß bezahlt, weil er Angst hat, sonst erwischt zu
werden, hat er nichts Böses getan, sondern ethisch richtig
gehandelt. Aber zur ethischen Gutheit gehört mehr, nämlich
dass man nicht nur faktisch, sondern prinzipiell ethisch richtig
handeln würde. Und dazu ist es notwendig, nicht aus der Angst um
sich selbst, sondern aus einem letzten Vertrauen zu leben.
Es kann sich dabei auch um so genannten
»anonymen« Glauben handeln, der vielleicht weder den Namen
Jesu kennt noch überhaupt von Gott richtig zu sprechen vermag.
Aber die christliche Botschaft behauptet, dass alle wahre Liebe und
Hingabe von Menschen füreinander nur als Gnade verstanden werden
kann. »Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar
wird, dass seine Werke in Gott getan sind« (Joh 3,21). Wenn
jemand liebevoll lebt und der christlichen Botschaft in klarer Form
begegnete, würde er rückschauend erkennen, dass er
längst aus dem Geist Jesu gelebt hat, auch wenn er es noch nicht
wusste.
Man kann die christliche Botschaft nur mit dem
Anspruch auf schlechthinnige Verlässlichkeit vertreten. Die
christliche Botschaft verkündet eine Gemeinschaft mit Gott, die in
ihr selber geschieht. Deshalb ist sie, wenn sie als Selbstmitteilung
Gottes verstehbar ist, »aus sich wahr«. Aber wie kann man
Unfehlbarkeit nicht nur in Dingen des Glaubens, sondern auch der Sitten
beanspruchen, wenn doch Sittennormen immer Sache der Vernunft sind? Das
II. Vatikanum hat die Formel »in Dingen des Glaubens und der
Sitten« so interpretiert: Es geht um »den zu glaubenden und
auf die Sitten anzuwendenden Glauben« (Kirchenkonstitution, Nr.
25,1). Die Anwendung des Glaubens auf die Sitten besteht aber nicht in
der Aufstellung von Normen, sondern in der bereits genannten
Rechtfertigungslehre. Unfehlbar in Bezug auf die Sitten kann nur
gelehrt werden, dass allein solche Werke vor Gott gut sind, die aus der
Gemeinschaft mit ihm hervorgehen, also nicht aus der Angst des Menschen
um sich selber stammen. Für die Normen selbst muss sich auch die
Kirche auf Vernunft berufen. Das ist der Sinn der traditionellen Lehre
vom natürlichen Sittengesetz.
1 Vgl. Peter Knauer,
Handlungsnetze – Über das
Grundprinzip der Ethik, Frankfurt am Main 2002 (Books on Demand: ISBN
3-8311-0513-8), 196 S.