Letzte Aktualisierung:  07.Januar 2011, PK

[Zurück zur Bibliographie von Peter Knauer]
 

Von den Fußnoten zurück zum Text durch Back-Taste des Browsers.



Peter Knauer SJ

Nichtreligiöse Ethikbegründung und christlicher Glaube



Erschienen in:
Orientierung 67 (2003) 124–126.

ZUSAMMENFASSUNG:                                                                  
Der christliche Glaube setzt die sittliche Ansprechbarkeit des Menschen voraus. Sie muss sich im voraus zu allem Glauben begründen lassen. Das Grundprinzip der Ethik lautet: Nur eine Handlung kann "in sich schlecht" sein, die einen Schaden ohne "entsprechenden Grund" zulässt oder verursacht und so die Struktur des Raubbaus hat. Es werden die Grundbegriffe für die ethische Beurteilung einer Handlung neu erläutert: "Gegenstand", "Absicht", "Umstände".
Die christliche Botschaft bringt keine zusätzlichen ethischen Forderungen mit sich, sondern befreit den Menschen aus derjenigen Angst um sich selber, die sonst an der Wurzel unverantwortlichen Handelns liegt.



Der Unterschied zwischen menschlich und unmenschlich, verantwortbar und nicht verantwortbar, muss im Voraus zu aller Religion mit der bloßen Vernunft zu erkennen sein. Dies zu bestreiten, hieße, den Anknüpfungspunkt der christlichen Botschaft zu verlieren. Denn wenn der ethische Anspruch erstmalig durch die Glaubensverkündigung zum Menschen käme, hätte der nicht-religiöse Mensch keinen Anlass, die christliche Botschaft auch nur anzuhören. Diese Botschaft beansprucht, den Menschen von dem befreien zu können, was ihn immer wieder daran hindert, dem Anspruch seines eigenen Gewissens zu folgen. Dann muss er natürlich diesen Anspruch bereits im voraus zum Glauben erkennen können

Ethikbegründung

Das im Grunde unerhört einfache, aber revolutionäre Grundprinzip der Ethik lautet: Eine Handlung kann nur dadurch »in sich schlecht« sein, dass sie ohne »entsprechenden Grund« einen Schaden zulässt oder verursacht.1

    Jede Handlung hat unvermeidlich einen Grund: Man strebt in ihr einen Wert oder Verbund von Werten an, also etwas, das man als Nutzen ansieht. Oder man will einen Unwert oder Verbund von Unwerten vermeiden, also etwas, das man als Schaden ansieht.

    Aber der Grund einer Handlung ist dann kein »entsprechender«, wenn die Handlung letztlich und universal gesehen gerade den Wert oder Werteverbund, den sie anstrebt, untergräbt bzw. den Schaden, den sie vermeiden will, vergrößert. Solche Handlungen haben die Struktur des »Raubbaus«, der »Kontraproduktivität«. Ihre Gesamtbilanz ist negativ. Daran lässt sich erkennen, dass sie nicht zu verantworten sind. Man betreibt Walfang um des dabei erzielten Gewinns willen. Aber wenn man Walfang in einer Weise betreibt, dass man insgesamt gesehen die Quellen des Gewinns zerstört, dann besteht zwischen der Handlung und ihrem Grund keine wirkliche Entsprechung, sondern ein Widerspruch.

    Ein »entsprechender Grund« ist also nicht einfach nur dasselbe wie ein ernsthafter oder wichtiger oder schwerwiegender Grund. Es handelt sich vielmehr um einen genauen Fachterminus, in dem es um die Frage geht, ob zwischen der Handlung und ihrem Grund eine Entsprechung oder letztlich ein Widerspruch vorliegt.

    Die Ethik fordert nicht, das jeweils Bestmögliche zu tun. Der Unterschied zwischen gut und besser ist nicht identisch mit dem von schlecht und gut. Nur das schlechte Handeln ist unzulässig. Gegenüber dem Guten ist das Bessere nicht geboten, sondern empfohlen. Es wird zu ihm eingeladen.

    Es geht deshalb auch in der Ethik nicht – wie man häufig meint – um die Frage, welche Werte wir wählen sollen, sondern wie wir den Werten, die wir wählen, auch universal und nachhaltig gerecht werden. Die Aufgabe ethischer Erziehung besteht nicht darin, anderen Menschen Wertehierarchien beizubringen. Vielmehr gilt es, darauf achten zu lehren, wie man die angestrebten Werte auch auf die Dauer und im ganzen fördert. Man muss nicht zwischen Geldbeutel und Umwelt eine Hierarchie aufstellen. Der eine spart Energie um des Geldbeutels willen; und wenn er es richtig macht, dann freut sich auch die Umwelt. Der andere spart Energie um der Umwelt willen, und wenn er es richtig macht, freut sich auch der Geldbeutel. Es geht also auch nicht um eine Ethikbegründung durch Gütervergleich, in welchem man verschiedene Güter gegeneinander abwägen wollte. Es geht nur darum, ob man den tatsächlich gewählten Werten wirklich auch im Kontext der Gesamtwirklichkeit, soweit man sie überschauen kann, gerecht wird.

    Ob der Grund einer Handlung ein »entsprechender« ist oder nicht, ist völlig unabhängig davon, ob es dem Handelnden passt oder nicht. Ethik ist realitätsgebunden. Das ist mit der Berufung auf das sogenannte »natürliche Sittengesetz« gemeint. »Gut gemeint« kann das Gegenteil von «gut« sein. Es ist immer zu fragen, was tatsächlich bewirkt wird. Ob also eine Handlung die Struktur des Raubbaus hat oder nicht, ist eine objektive Frage und ist nicht vom Belieben des Handelnden abhängig. Eine bloße Gesinnungsethik wäre überhaupt keine Ethik.

    Für die ethische Beurteilung einer Handlung ist nach traditioneller Terminologie zwischen dem (gewollten) »Gegenstand« der Handlung (gemäß dem die Handlung selbst benannt wird) und einer eventuellen zusätzlichen »Absicht« einerseits und den »Umständen« anderseits zu unterscheiden. Von »Gegenstand« und »Absicht« hängt ab, ob die Handlung gut oder schlecht ist (Qualität); als »Umstände« kommen nur solche in Betracht, die bestimmen, in welchem Maß sie gut oder schlecht ist (Quantität). Aber diese traditionelle Terminologie erfordert eine genaue Interpretation.

    Der »Gegenstand« einer Handlung ist das, was man in ihr objektiv tun will. Der »Gegenstand« ist entweder der »entsprechende Grund« der Handlung, oder aber, falls ihr Grund kein entsprechender ist, der dann eo ipso »direkt« zugelassene oder verursachte Schaden (die Handlung erhält in diesem Fall eine von vornherein dem Schaden gemäß ethisch negativ bewertende Benennung wie »Diebstahl«, »Lüge«, »Folter«, »Mord«). Jeder Diebstahl ist Wegnahme fremden Eigentums, aber Wegnahme fremden Eigentums ist nur dann Diebstahl, wenn ihr Grund kein »entsprechender« ist; sie ist kein Diebstahl, wenn in extremer Not die einzige Weise zu überleben in eben der Wegnahme fremden Eigentums besteht. In ähnlicher Weise ist zwischen Falschrede und Lüge, zwischen Schmerzzufügung und Folter, zwischen Tötung und Mord zu unterscheiden.

    Über den »Gegenstand« hinaus kann man eigens von einer »Absicht« nur dann sprechen, wenn eine erste voll konstituierte Handlung zusätzlich benutzt wird, um eine zweite Handlung zu ermöglichen. Der »Gegenstand« dieser zweiten Handlung ist dann natürlich bei der vorausgehenden Handlung bereits als sie mitbestimmende »Absicht« präsent. So entsteht der Anschein, dass mit dem »Gegenstand« einer Handlung deren objektive Seite gemeint ist, während die »Absicht« das subjektive Element sei. Aber in Wirklichkeit muss bereits der »Gegenstand« der Handlung, um überhaupt ethisch relevant zu sein, den Willen des Handelnden bestimmen. In diesem Sinn muss er von vornherein vom handelnden Subjekt »beabsichtigt« sein. Soll also im Unterschied zum gewollten »Gegenstand« einer Handlung zusätzlich noch eigens von einer »Absicht« die Rede sein, dann muss damit etwas anderes gemeint sein. Es kann dann von vornherein nicht um nur eine einzige isolierte Handlung gehen, sondern es wird um die Verknüpfung mehrerer Handlungen gehen. Zum Beispiel besucht jemand die Buchmesse aus beruflichem Interesse und würde dies auf jeden Fall tun; deshalb ist bereits der Besuch der Buchmesse eine eigene Handlung. Wenn der Betreffende sich aber zusätzlich von vornherein vornimmt, falls sich beim Besuch der Buchmesse die Gelegenheit bieten sollte, ein von ihm besonders geschätztes Buch unbemerkt mitgehen zu lassen, dann ist der »Gegenstand« dieser zweiten Handlung, der Diebstahl, bereits in der ersten Handlung als deren zusätzliche »Absicht« anwesend. Die Ethik hat es also nicht nur mit voneinander isolierten Handlungen zu tun, sondern geht auch auf die Verknüpfung von Handlungen ein.

    Mit den ethisch relevanten »Umständen« einer Handlung sind quantitative Bestimmungen gemeint. Zum Beispiel hängt die Schwere eines Diebstahls von der Höhe der gestohlenen Summe ab, oder auch vom Grad der Freiheit des Handelnden.

    Es gibt ein Prinzip, das als Qualitätssiegel der Ethik gilt: »Der gute Zweck heiligt nicht das schlechte Mittel.« Dieses Prinzip setzt voraus, dass Mittel und Zweck zwei unterschiedliche Handlungen sind. Eine Handlung, die bereits schlecht ist, weil sie ohne »entsprechenden Grund« einen Schaden zulässt oder verursacht, kann nicht nachträglich dadurch saniert werden, dass man sie zur Ermöglichung einer zweiten guten Handlung benutzt.

    Wenn ein Arzt den Fuß eines Patienten amputieren muss, um sein Leben zu retten, ist die Amputation und die Lebensrettung ein und dieselbe Handlung. Der Gegenstand der Handlung, nach dem die Handlung zu benennen ist, ist nicht die Verstümmelung des Patienten, sondern nur seine Lebensrettung. Ganz anders verhält es sich zum Beispiel bei der Folter. Man hat den Entführer eines Kindes ergriffen und möchte durch Folter den Aufenthaltsort des Kindes herausbekommen. Foltern und den Aufenthaltsort des Kindes erfahren sind aber deshalb zwei voneinander verschiedene Handlungen, weil zwischen ihnen ein fremder Wille intervenieren muss: Der Gefolterte muss klein beigeben. Der Gegenstand der Folterhandlung besteht darin, durch Schmerzzufügung einen Willen brechen zu wollen; und dies ist der Fall, ganz gleich zu welchem weiteren Zweck man es unternimmt. Eine solche Handlung ist in sich schlecht. Den Aufenthaltsort des Kindes herauszubekommen ist zwar höchst wünschenswert, aber dieser gute Zweck reicht nicht aus, ein bereits »in sich schlechtes« Mittel, wie es die Folter ist, zu heiligen.

    Es gibt also nicht nur »in sich schlechte« Handlungen, sondern eine Handlung kann dadurch »(mittelbar) schlecht« sein, dass man sie durch eine »in sich schlechte« Handlung ermöglicht oder durch sie eine »in sich schlechte Handlung« ermöglichen will.

Glaube

In welchem Verhältnis stehen christlicher Glaube und Ethik zueinander? Der gesamte christliche Glaube lässt sich in einer Kurzformel zusammenfassen: An Jesus als den Sohn Gottes glauben bedeutet, aufgrund seines Wortes sich und die ganze Welt in die ewige Liebe Gottes zu Gott, des Vaters zum Sohn, aufgenommen zu wissen, die der Heilige Geist ist.

    Gott ist der »in allem Mächtige«. Gegen die Gemeinschaft mit ihm kommt keine Macht der Welt an (vgl. Röm 8,35ff). Nicht einmal der Tod kann von ihr trennen.

    Der Glaube bringt keine zusätzlichen ethischen Forderungen mit sich, sondern er befreit aus der Macht derjenigen Angst des Menschen um sich selbst (vgl. Hebr 2,15), die sonst an der Wurzel aller Unmenschlichkeit und damit alles Bösen liegt.

    In der Lehre von der Rechtfertigung durch Glauben allein geht es darum, dass nur solche Werke (nicht nur »richtig«, sondern) »vor Gott gut« sein können, die aus der Gemeinschaft mit Gott hervorgehen. Nicht die Früchte machen den Baum gut, sondern nur ein guter Baum bringt gute Früchte. Richtig handeln kann man auch ohne Glauben. Wenn jemand im Selbstbedienungsladen nicht stiehlt, sondern die Ware ordnungsgemäß bezahlt, weil er Angst hat, sonst erwischt zu werden, hat er nichts Böses getan, sondern ethisch richtig gehandelt. Aber zur ethischen Gutheit gehört mehr, nämlich dass man nicht nur faktisch, sondern prinzipiell ethisch richtig handeln würde. Und dazu ist es notwendig, nicht aus der Angst um sich selbst, sondern aus einem letzten Vertrauen zu leben.

    Es kann sich dabei auch um so genannten »anonymen« Glauben handeln, der vielleicht weder den Namen Jesu kennt noch überhaupt von Gott richtig zu sprechen vermag. Aber die christliche Botschaft behauptet, dass alle wahre Liebe und Hingabe von Menschen füreinander nur als Gnade verstanden werden kann. »Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind« (Joh 3,21). Wenn jemand liebevoll lebt und der christlichen Botschaft in klarer Form begegnete, würde er rückschauend erkennen, dass er längst aus dem Geist Jesu gelebt hat, auch wenn er es noch nicht wusste.

    Man kann die christliche Botschaft nur mit dem Anspruch auf schlechthinnige Verlässlichkeit vertreten. Die christliche Botschaft verkündet eine Gemeinschaft mit Gott, die in ihr selber geschieht. Deshalb ist sie, wenn sie als Selbstmitteilung Gottes verstehbar ist, »aus sich wahr«. Aber wie kann man Unfehlbarkeit nicht nur in Dingen des Glaubens, sondern auch der Sitten beanspruchen, wenn doch Sittennormen immer Sache der Vernunft sind? Das II. Vatikanum hat die Formel »in Dingen des Glaubens und der Sitten« so interpretiert: Es geht um »den zu glaubenden und auf die Sitten anzuwendenden Glauben« (Kirchenkonstitution, Nr. 25,1). Die Anwendung des Glaubens auf die Sitten besteht aber nicht in der Aufstellung von Normen, sondern in der bereits genannten Rechtfertigungslehre. Unfehlbar in Bezug auf die Sitten kann nur gelehrt werden, dass allein solche Werke vor Gott gut sind, die aus der Gemeinschaft mit ihm hervorgehen, also nicht aus der Angst des Menschen um sich selber stammen. Für die Normen selbst muss sich auch die Kirche auf Vernunft berufen. Das ist der Sinn der traditionellen Lehre vom natürlichen Sittengesetz.




1  Vgl. Peter Knauer, Handlungsnetze – Über das Grundprinzip der Ethik, Frankfurt am Main 2002 (Books on Demand: ISBN 3-8311-0513-8), 196 S.


[Zurück zum Beginn] [Zurück zur Bibliographie von Peter Knauer]