Letzte Aktualisierung:  09. September 2010, PK

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Peter Knauer SJ
 

DAS PRINZIP DER DOPPELWIRKUNG

           
          Ungedruckt.

          ZUSAMMENFASSUNG: 
          Das traditionelle Prinzip der Doppelwirkung wird von seiner letzten Bedingung her interpretiert und völlig neu formuliert. Nur eine solche Handlung kann »in sich schlecht« sein, in der man einen Schaden zuläßt oder verursacht ohne »entsprechenden  Grund«, d. h. die letztlich auf »Raubbau« hinausläuft.
          Durch Ansteckung sind auch solche Handlungen moralisch »schlecht«, die man durch eine »in sich schlechte« Handlung ermöglichen will oder die man ihrerseits benutzt, um eine »in sich schlechte« Handlung zu ermöglichen. Denn weder kann der gute Zweck das schlechte Mittel noch das gute Mittel den schlechten Zweck heiligen.
           

  1. Das herkömmliche Prinzip der Doppelwirkung lautet: 

Man darf eine üble Wirkung nur dann zulassen oder verursachen, wenn

a) die Handlung nicht in sich selbst sittlich schlecht ist;

b) die üble Wirkung nicht in sich selbst beabsichtigt ist;

c) die üble Wirkung nicht Mittel zum guten Zweck ist;

d) man für die Zulassung oder Verursachung der üblen Wirkung einen entsprechenden Grund hat.

  2. In der Scholastik führte das Prinzip der Doppelwirkung eine Randexistenz und blieb in seiner Anwendung problematisch und häufig uneinsehbar.
  3. Wenn man seine grundlegende Fragestellung und deren Voraussetzung im Auge hat, erweist es sich jedoch, wie im folgenden zu zeigen ist, als das Grundprinzip der gesamten Ethik.
  4. Praktisch haben überhaupt alle Handlungen eine doppelte Wirkung, das heißt, jeder Gewinn ist mit einem Verlust (= einem Schaden) verbunden.
  5. Die Fragestellung des Prinzips der Doppelwirkung ist: Wann ist die Zulassung oder Verursachung einer üblen Wirkung (= eines Schadens) moralisch schlecht und wann nicht.
  6. Vorausgesetzt ist dabei: Eine Handlung kann nur dann moralisch schlecht sein, wenn man in ihr wissentlich (oder zumindest vermeintlich) einen Schaden zuläßt oder verursacht. Aber nicht in allen solchen Fällen wird die Handlung tatsächlich moralisch schlecht.
  7. Wenn eine Handlung überhaupt moralisch schlecht ist (nicht nur, wenn sie »in sich schlecht« ist), dann kann sie durch nichts und niemals gerechtfertigt werden.
  8. Das Prinzip der Doppelwirkung will mit Hilfe seiner vier Bedingungen die genaue Grenze zwischen moralisch schlechten und nicht moralisch schlechten Handlungen angeben.
  9. Die gewöhnliche Verkennung der Bedeutung des Prinzips der Doppelwirkung liegt u. a. an der hermeneutisch unbedacht gebliebenen Reihenfolge seiner Bedingungen.
10. Die vierte Bedingung ist die entscheidende und müßte an erster Stelle stehen; eine Handlung kann nur dann »in sich schlecht« sein, wenn man für die Zulassung oder Verursachung eines Schadens keinen »entsprechenden Grund« hat.
11. Wenn feststeht, daß eine Handlung »in sich schlecht« ist, verbietet die erste Bedingung des Prinzips der Doppelwirkung eine Wiederholung des Examens (eine Programmschleife).
12. Die zweite und die dritte Bedingung handeln nur von Fällen, in denen eine erste vollkonstituierte und bereits moralisch voll qualifizierte Handlung zusätzlich auf eine zweite Handlung hingeordnet wird (im Unterschied zu zwei Bestandteilen einer einzigen Handlung).
13. Die zweite Bedingung besagt dann, daß sich eine in sich schlechte zweite Handlung (ein »schlechtes Ziel«) nicht durch eine auf sie hingeordnete angeblich gute erste Handlung (ein »gutes Mittel«) heiligen läßt; vielmehr verunheiligt ein schlechtes Ziel auch das sonst gute Mittel.
14. Die dritte Bedingung besagt, daß auch eine angeblich gute zweite Handlung (das »gute Ziel«) eine auf sie hingeordnete »in sich schlechte« erste Handlung (das »schlechte Mittel«) nicht nachträglich heiligen kann, sondern an deren Schlechtigkeit teilnimmt.
15. Zur Analyse der vierten Bedingung, die logisch die erste sein müßte: Alles hängt davon ab, was unter einem »entsprechenden Grund« zu verstehen ist. Die gewöhnliche Verkennung des Prinzips von der Doppelwirkung liegt auch am mangelnden Verständnis dieses Begriffs.
16. Man hat für überhaupt jede Handlung unvermeidlich einen »Grund«, denn man kann nur sub ratione boni (indem man ein Gut anstrebt oder einen Schaden vermeiden will) überhaupt handeln. Dies allein reicht jedoch nicht, um die Handlung auch moralisch richtig sein zu lassen.
17. Der Grund einer Handlung ist erst dann ein »entsprechender«, wenn die Handlung dem in ihr angestrebten, für die Analyse universal zu formulierenden vormoralischen Wert oder Wertekomplex auch auf die Dauer und im ganzen gerecht wird.
18. Umgekehrt ist der Grund einer Handlung dann kein »entsprechender«, wenn die Handlung dem in ihr angestrebten Wert oder Wertekomplex auf die Dauer und im ganzen nicht gerecht wird, sondern ihm gegenüber letztlich kontraproduktiv ist, bzw. andere Werte unnötig opfert.
19. Jede moralisch schlechte Handlung hat gegenüber dem in ihr angestrebten, universal zu formulierenden Wert oder Wertekomplex den Charakter des »Raubbaus«, was auch dann der Fall ist, wenn sie andere Werte unnötig opfert. Dies ist das letzte Kriterium für Immoralität.
20. Mit »universaler« Formulierung ist im Unterschied zu partikulärer Formulierung z. B. gemeint: »Reichtum überhaupt« im Unterschied zu »mein oder irgendeiner Gruppe Reichtum«. Für die ethische Analyse bedarf es immer der universalen Formulierung.
21. Es geht also in der Ethik letztlich nicht so sehr um die Frage, welche Werte wir wählen sollen, sondern wie wir sie wählen, ob nämlich so, daß wir ihnen auch als universal formulierten auf die Dauer und im ganzen gerecht werden.
22. Sobald die Zulassung oder Verursachung eines Schadens nicht durch einen »entsprechenden Grund« gerechtfertigt ist, wird sie im moralischen Sinn »direkt«; umgekehrt wird sie durch das Vorliegen eines »entsprechenden Grundes« im moralischen Sinn »indirekt«.
23. Die Erkenntnis von Raubbau hat häufig eine Art »Inkubationszeit«. Man kann zwar in manchen Fällen definitiv wissen, daß eine Handlung den Charakter des Raubbaus hat; aber umgekehrt kann man nie definitiv wissen, daß sie diesen Charakter nicht hat.
24. Ob eine Handlung auf die Dauer und im ganzen den Charakter des Raubbaus hat und damit unmoralisch ist, ist ein Sachverhalt, der unabhängig davon besteht, ob es dem Handelnden paßt oder nicht. Darauf bezieht sich die Rede vom »natürlichen« Sittengesetz.
25. Ein möglicher Wandel des natürlichen Sittengesetzes hängt damit zusammen, daß man verpflichtet ist, nach immer neuen Möglichkeiten zu suchen, um die Zulassung oder Verursachung von Schaden zu minimieren; sind solche Möglichkeiten gefunden, dann sind bisher noch verantwortbare Handlungen von da an nicht mehr zu verantworten.
26. Ein positives menschliches Gesetz kann nur verpflichten, wenn es eine Grundlage im natürlichen Sittengesetz hat (z.B. dient das Rechtsfahrgebot der Vermeidung von Unfällen).
27. Die traditionelle Unterscheidung von »finis operis (Handlungsziel)« und »finis operantis (Ziel des Handelnden)« bezieht sich in Wirklichkeit auf die Hinordnung einer ersten Handlung mit ihrem »finis operis« auf eine zweite Handlung mit einem anderen »finis operis«. Dann nennt man den »finis operis« der zweiten Handlung »finis operantis« für die erste.
28. Die »circumstantiae (Umstände)« (Maße des Gegenstandes, Gewißheit) bestimmen nur den Grad der Moralität.
29. Es bedarf für alle Handlungen eines unterschiedlichen Wortes für die Beschreibung der Zulassung oder Verursachung eines Schadens abgesehen davon, ob sie durch einen »entsprechenden Grund« gerechtfertigt ist oder nicht, und eines anderen Wortes für die Kennzeichnung der nicht durch einen »entsprechenden Grund« gerechtfertigten Zulassung oder Verursachung des Schadens, z. B. Wegnahme fremden Eigentums und Diebstahl, Tötung und Mord, Falschaussage und Lüge, Schwangerschaftsabbruch und Abtreibung, Amputation und Verstümmelung; solche unterschiedlichen Worte sieht die Alltagssprache in vielen Fällen leider noch nicht vor.

30. Eine hermeneutische Neufassung des Prinzips der Doppelwirkung könnte lauten:

Man darf eine üble Wirkung (= einen Schaden) nur dann zulassen oder verursachen,

a) wenn man dafür einen »entsprechenden Grund« hat (das heißt, wenn die Handlung den in ihr angestrebten, für die Analyse universal zu formulierendem Wert oder Wertekomplex auf die Dauer und im ganzen nicht untergräbt und auch keine anderen Werte unnötig beeinträchtigt werden); anderenfalls ist die Handlung »in sich schlecht«;

b) wenn die Handlung nicht als Mittel zur Ermöglichung einer anderen (bereits durch das Fehlen eines »entsprechenden Grundes«) in sich schlechten Handlung benutzt wird;

c) wenn nicht eine andere (bereits durch das Fehlen eines »entsprechenden Grundes«) in sich schlechte Handlung zur Ermöglichung dieser Handlung benutzt wird.

Vgl. Peter Knauer, Handlungsnetze - Über das Grundprinzip der Ethik, Frankfurt 2002; Der Glaube kommt vom Hören ­ Ökumenische Fundamentaltheologie, Freiburg-Basel-Wien 61991, 91-­113. Vgl. auch PhTh 55 (1980) 321-360 und StZ 119 (1994) 18­26.




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